Das Ende einer Armee

Das Ende einer Armee
Gedanken zum 30. Jahrestag der politischen Wende in Ostdeutschland

Ein Artikel der Zeitschrift Leinen Los, Ausgabe 4/2019
Klaus-Peter Gödde

Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall in “Leinen los!” über die Auflösung eines landgestützten Truppenteils der Volksmarine zu berichten, ruft sicherlich bei der „zur See fahrenden Nation“ Verwunderung hervor. Ist das wirklich so? Mitnichten meint Fregattenkapitän a.D. Klaus-Peter Gödde, der letzte Kommandeur des Küstenraketenregiments 18 (KRR-18) der DDR-Volksmarine (VM). Die Auflösung des KRR-18 steht symbolisch für die militärhistorische Einmaligkeit des Untergangs einer deutschen Armee und deren kleinen Flotte.

Das KRR-18 wurde im November 1983 in Dienst gestellt und hatte die Aufgabe, Überwasserkräfte des Gegners im Verantwortungsbereich der VM von Land aus im Zusammenwirken mit den raketentragenden Schiffsschlaggruppen und den Marinefliegerkräften zu bekämpfen. Dazu war es mit modernen Seezielraketen und mobilen Startrampen des Typ Rubesh sowjetischer Bauart ausgerüstet.

Sprung zurück in den Herbst 1989: Das Regiment hat sechs Jahre nach seiner Gründung den Höhepunkt seiner Existenz erreicht, es war einer der vier Truppenteile der Nationalen Volksarmee (NVA), die mit dem Bestentitel zum 40. Jahrestag der DDR ausgezeichnet wurden.
Es herrschte eine aufgeschlossene und kameradschaftliche Atmosphäre in der gesamten Truppe. Diese Stimmung war eine wesentliche Grundlage dafür, um die einschneidenden politischen Ereignisse in den folgenden Monaten zu bewältigen und zu überstehen. Dann kam der 9. November 1989 – die überraschende Grenzöffnung. Und damit war klar: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Es begannen viele Personalveränderungen. Für mich persönlich stand im Dezember 1989 die Entscheidung, die Führung des Regiments zu übernehmen. Der alte Kommandeur, genau der, der die Truppe als Militär und Menschenführer zu Höchstleistungen gebracht hatte, wurde ins Kommando der Volksmarine berufen. Keiner wusste aber zu diesem Zeitpunkt etwas über einen möglichen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik oder von der Auflösung des KRR-18 bzw. der ganzen NVA. Im Gegenteil, jetzt lieferte die Sowjetunion die noch fehlenden vier nagelneuen Startrampen für die geplante 3. Küstenraketenabteilung. Zwei davon wurden mit hohen Konventionalstrafen für die DDR an die Sowjetunion zurückgegeben.
Mit dem neuen Abrüstungsminister Pfarrer Eppelmann schwang sich die Kompassnadel immer mehr in Richtung Abrüstung und Auflösung ein. Die Lage in der NVA spitzte sich zu. Eppelmann versuchte zu beruhigen und versprach Sachen, die er nie hätte halten können. Es gab auch später falsche, vom Bundeswehrkommando Ost in Strausberg übermittelte Informationen, dass das Objekt, die Dienststelle des KRR-18, angeblich weiterverwendet werden soll. In dieser verworrenen Situation durfte nicht zugelassen werden, dass Disziplin und Ordnung in eine unkalkulierbare Sicherheitslage umschlägt. Ich muss wohl nicht besonders erwähnen, dass unser Regiment mit Raketen, Waffen und Munition vollständig aufgefüllt war. Toxische, hochexplosive und äußerst umweltgefährliche flüssige Raketentreibstoffe noch dazu. Zwei wesentliche Unterschiede charakterisierten im Allgemeinem die eingetretene Situation im Vergleich zu früher. Es gab erstens keine neuen richtungsweisenden Befehle oder Vorgaben vom Kommando Volksmarine, die zentral alles festlegten und regelten so wie in der Vergangenheit. Und zweitens war das alles keine Übung, nach deren Ende man wieder zum normalen Tagesdienst übergehen konnte. Somit trugen wir nun völlig allein auf uns gestellt die Verantwortung für den täglichen Dienstbetrieb, für die Sicherheit im Objekt sowie für die Erfüllung der immer noch geltenden Hauptaufgaben und vor allem für den in der gesamten NVA eingeleiteten Prozess einer grundlegenden Militärreform. Es gab aber, im Gegensatz zu früher, keine „Eingriffe“ von der Politabteilung des Kommandos der Volksmarine, noch wurden Kontrollen/ Inspektionen durchgeführt oder Einschränkungen in unsere Aktivitäten vorgenommen. Die geltenden Befehle, insbesondere an das Diensthabende System, Urlaubs- oder Erleichterungen für Landgänge, wurden erst später geändert, dann abgeschafft bzw. gelockert. Ich nahm meine Stellvertreter, Abteilungskommandeure und Oberoffiziere zusammen und wir legten fest wie nun weiter zu verfahren ist. Daraus formulierte ich meinen Entschluss in einem schriftlichen Dokument. Ich möchte daraus lediglich zwei Beispiele darlegen, wie das praktisch aussah und umgesetzt wurde:
1. Verstärkte Ausbildung hieß das Zauberwort. Die Gefechts- und allgemeinmilitärische Ausbildung konnte störungsfrei, uneingeschränkt und unbegrenzt durchgeführt werden. Wir strukturierten die beiden Küstenraketenabteilungen so um, dass eine von ihnen personell und materiell voll aufgefüllt war. Die zweite Abteilung rekrutierte sich ausschließlich aus wenigen, dafür erfahrenen Berufssoldaten. Diese Küstenraketenabteilung besaß die gleiche Kampfkraft, nur mit dem Unterschied, dass die langgedienten Berufssoldaten mehrere Funktionen ausführen konnten. Da entfachte sich ein gesunder Wettbewerb zwischen den Abteilungen des Typs „Standard“ und „Senioren“. Alle Berufssoldaten, die mit dieser Umstrukturierung zusätzliche Funktionen übernahmen, konnten, gemäß geltenden finanzökonomischen Bestimmungen der NVA, auch finanzielle Zulagen erhalten. So fragte auch keiner tagein und tagaus, was nun aus seinem persönlichen Schicksal werden wird, sondern sie erfüllten den täglichen Ausbildungsdienst. Völlig entgegen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung in der unklaren Übergangszeit der DDR. Es war aber auch die Zeit, wenn ein Berufssoldat ein attraktives Angebot aus der Wirtschaft bekam, dass er sich problemlos entscheiden und die Streitkräfte verlassen konnte. Das half vor allem vielen Berufssoldaten des KRR-18, bei der Stange zu bleiben oder zu gehen.
2. Ein weiteres Beispiel war die Sicherung des gesamten 240 ha großen Dienststellenareals. Der leider schon viel zu früh verstorbene Stabschef Fregattenkapitän R. M. Brennecke schlug mir damals vor, das gesamte militärische Wachpersonal durch eine Zivilwache zu ersetzen. Gesagt getan. Alles war zu dieser Zeit möglich. Er stimmte alle Voraussetzungen mit dem Kommando der VM ab. Die Mitarbeiter des Militärforstes aus der Region, die sich teilweise schon in gekündigten Beschäftigungsverhältnissen befanden, wurden auf zivilrechtlicher Grundlage für den Wachdienst und Objektschutz gemustert, eingestellt und ausgebildet. Und die Herren machten einen Top Wachdienst. Die freiwerdenden Matrosen und Unteroffiziere des Wachzuges waren froh, einen interessanteren Dienst in anderen Einheiten durchzuführen oder wurden so umgesetzt, dass sich mit der nächsten Entlassung keine nennenswerten personellen Engpässe auftaten. Bis Anfang September bestimmten die Maßnahmen unseres Entschlusses den militärischen Dienstbetrieb im KRR. Am 23.08.1990 kam der bekannte Volkskammer-Beschluss zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Als dann ein paar Tage später drei höhere Offiziere, Waffenexperten der Bundesmarine, zur waffen- und munitionstechnischen Begutachtung ins KRR-18 kamen, war letztendlich die Entscheidung über die Hauptbewaffnung des KRR-18 gefallen: nicht weiterverwendungsfähig. Nun begannen auch die ersten faktischen Abrüstungsschritte im KRR. Wir erhielten Order, nach einem Plan des Kommandos verschiedenste Munitionsarten ins Munitionslager 18 abzuführen. So begannen über Wochen die vielen Lkw des Regiments, die Gefechtsteile der Raketen, Handfeuerwaffenmunition, panzerbrechende Waffen, Nahbereichs-Fla-Raketen und auch Pioniermunition in das zentrale Munitionslager der VM auszulagern. Somit hatten wir ein halbes Jahr zwar intensiv Ausbildung umsonst durchgeführt, aber somit eine Zeit überbrückt, deren Ausgang nicht annähernd eingeschätzt werden konnte. Selbst den letzten Ausbildungsabschnitt haben wir mit einer symbolischen Regimentsgefechtsübung abgeschlossen – mit der Verabschiedung von uns selbst. Dazu wurde ein letzter Ausmarsch in den benachbarten Truppenübungsplatz bei Rövershagen geplant und durchgeführt. Es war die letzte Möglichkeit unter uns zu sein. Ganz unter uns, ist nicht ganz wahrheitsgetreu, denn schon tauchte die „Bild-Zeitung“ auf dem Truppenübungsplatz auf, um die Menschen im Raum Rostock mit ihren Nachrichten zu „beglücken“. Zwei Tage später verbreitete „Bild“ hanebüchene Informationen über unsere Truppe. Es brach halt eine neue, andere Zeit an.
Einen Tag nach dem 3. Oktober 1990 traf die dem KRR-18 zugeteilte fünfköpfige Unterstützungsgruppe der Bundesmarine ein und rüstete das Regiment mit einem handverlesenen Nachkommando in den darauffolgenden drei Jahren gänzlich ab. In den Jahren 1994/95 wurde die gesamte Dienststelle – bis auf zwei Gebäude, abgerissen, abgetragen, eingeebnet und das Waldgebiet renaturiert. Wer sich über die Geschichte des KRR-18 intensiver informieren möchte, den lade ich auf meine Website www.kuestenraketen.de ein. Dort ist u.a. die Geschichte der Auflösung unseres Truppenteils detailliert festgehalten. 2000 ist mein erstes Buch „Eine Eliteeinheit der NVA rüstet ab“ erschienen. Lesenswert. Und nicht nur das. Die gesamte Entwicklung der Waffengattung Küstenraketenkräfte, als Teil moderner Seestreitkräfte, ist dort von 1948 beginnend bis weit in die Zukunft dargestellt.