Deutsche Krieger Sören Neitzel Rezession

Unerhörte Enthüllungen
Gabriele Muthesius in “Das Blättchen” 23. Jahrgang, Nummer 23, 9. November 2020

Immer mal wieder erscheinen Bücher, die Sprengstoff – mindestens politischen – enthalten. Des Potsdamer Militärhistorikers Sönke Neitzels 800-Seiten-Wälzer „Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich zur Berliner Republik“ gehört gewiss dazu.
Neitzel gelang es, Zugang zu einer Vielzahl von Bundeswehrangehörigen sowie deren Vertrauen zu gewinnen – zu einer Welt, in der ein strikter Schweigekodex konstituierender Bestandteil des Komments ist. Diese Quellen ermöglichten dem Autor einige unerhörte Enthüllungen.
So heißt es im Kapitel „Die Bundeswehr in Afghanistan“, dass „selbst hartgesottene Soldaten des KSK erschüttert“ gewesen seien, „als ihnen Amerikaner nonchalant davon berichteten, wie sie gefangene Taliban exekutierten“.
Gefangene, ergo entwaffnete Feinde? Exekutiert? Das wären nonchalante Bekenntnisse zu eindeutigen Kriegsverbrechen gewesen!
Im selben Kapitel schreibt Neitzel, „dass es in den Stäben durchaus unterschiedliche Auffassungen von legitimer und illegitimer Gewalt gab, auch Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der Amerikaner im Land“. Teilweise seien deutsche Stabsoffiziere abgelöst worden, weil sie das Vorgehen der Amerikaner nicht mit ihren Vorstellungen über den Charakter des Einsatzes in Einklang bringen konnten. Andererseits: „Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich (Hervorhebung – G.M.) umkamen, nahm man das hin. Mancher wunderte sich gewiss, dass darüber nicht gesprochen wurde. Doch keiner wollte sich mit den Amerikanern anlegen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren. Im Zweifelsfall waren es ihre Hubschrauber, die deutsche Verwundete ausflogen, ihre Flugzeuge, die schwer bedrängten deutschen Soldaten Luftunterstützung gaben. […] Die Deutschen waren insgesamt loyale Allianzpartner, die die nächtlichen Schattenkrieger mit Logistik, mit Absperrungen und auch mit Sanitätern unterstützten.“
Es gab, kam selbst die FAZ in einer Besprechung des Buches nicht umhin zu fragen, „also diverse Operationen amerikanischer Spezialkräfte, bei denen mehr als hundert Zivilisten umkamen, von denen die Bundeswehr wusste, zu denen sie aber schwieg? Und von denen die Öffentlichkeit nicht erfuhr?“
Bleibt zu fragen, ob etwa Parlamentarier des Bundestages, die das Mandat für den Afghanistan-Einsatz der deutschen Streitkräfte immer wieder verlängert haben, davon wussten. Winfried Nachtwei, ehemaliger sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, bekannte jedenfalls: „Die Enthüllungen von Sönke Neitzel zu amerikanischen Kriegsverbrechen in Afghanistan sind […] nicht völlig überraschend.“ Doch die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), ließ über ihren Referenten bereits wissen: „Frau Högl wird sich dazu nicht äußern.“
Darüber hinaus berichtet Neitzel im Kapitel „Neue Welt, neue Aufgaben“: „Weitgehend unbekannt ist, dass inoffiziell schon seit 1991 rund 200 bis 300 Bundeswehrsoldaten als Freiwillige im jugoslawischen Bürgerkrieg kämpften. Insbesondere aus den Garnisonen in Süddeutschland fuhren viele Männer auf ein verlängertes Wochenende oder im Urlaub an die Front, um Kampferfahrung zu sammeln. Das war zwar illegal, wurde von den Vorgesetzten in vielen Fällen aber gedeckt, da man die Eigeninitiative als wertvolle Bereicherung der Gefechtsausbildung betrachtete.“
Auf die politischen Konsequenzen von Neitzels Enthüllungen, wenn sie denn von der politischen und militärischen Führung im Lande nicht geflissentlich totgeschwiegen werden oder wenn nicht alle zuständigen Verantwortungsträger einfach die Högl machen, darf man gespannt sein.

 

Klaus-Peter Gödde

Der Historiker Neitzel hat mit „Deutsche Krieger“ ein sehr umfangreiches und für ein breites Leserpublikum bemerkenswertes Buch, auch durch seine Online-Buchpräsentation verstärkt, herausgebracht. Für einen ehemaligen NVA-Offizier sind die Kapitel Reichswehr, Wehrmacht und Bundeswehr sehr informativ. Vieles ist von der Thematik her bekannt, manche Details sind neu und recht aufschlussreich. Neitzel nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht Zustände in allen deutschen Streitkräften an, deren Beschreibung uneingeschränkte Anerkennung verdienen, für aktuelle Ereignisse auch mutig sind, sie so klar in Worte zu fassen. Nun folgen meine vier kritische Anmerkungen:

1. Mit dem Kapitel V – NVA – hat der Verfasser o.ensichtlich Probleme, weil sie so gar nicht in das bis dahin ausgebreitete Schema passen. Kurzum, da wird der gesamte „Zug NVA“ aufs Abstellgleis gestellt, Schild dran – „nach außen preußisch, innen sowjetisch“. Geht so natürlich auch. Selbst die Versuche seiner Landsmänner die Traditionslinie als Nicht-NVA-Angehörige zu interpretieren scheitern und politisieren eher, als das sie Erhellung bringen. Ein lapidares Beispiel, welches symptomatisch ist für den Versuch irgendeine Linie bei den tribal cultures in die deutsche NVA zu bringen. Mögen 30 Seiten für die NVA vielleicht mager sein, aber man kann auch Wichtiges in Kürze fassen. Mitnichten. Der Versuch den Roman von Harry Thürk „Die Stunde der toten Augen“ über fast eine ganze Buchseite als Beweis einer vermuteten Ankopplung an Wehrmachtsdenken in der NVA anzuführen, ist mehr als vage. Anfang der Siebziger habe ich ein Exemplar dieses Buches aus der 7.Auflage! problemlos in der Militärbuchhandlung meiner Flottille gekauft und gelesen. Selbstverständlich wurde darüber gesprochen, dass aber dieses Buch bei Willi Sänger zur „Bibel“ erhoben wurde, muß ich echt bezweifeln. Und dass dieses Buch auch noch auf den Index gesetzt wurde, habe ich erst aus vorliegendem Buch erfahren. Wer die Biografie von Thürk kennt, weiß, dass der ehemalige Wehrmachtssoldat einen inneren Wandlungsprozess vollzogen hat, der SED beitrat und als Reporter sowohl aus dem Korea- als auch vom Vietnamkrieg berichtete. Das Herbizid Agent Orange verursachte eine schwere Vergiftung, die ihn später an das Bett fesselte. Wer aus dieser Erlebniswelt und aus dieser Perspektive Bücher schreibt und damit eine Traditionslinie aufbaut, weiß sicherlich warum er das tut. Für mich als NVA-O.zier reiht sich dieser Roman bis heute in die Vielzahl gleichwertiger Bücher ein wie zum Beispiel, Gerhard Grümmer „Irrfahrt“, der Dreiteiler „Krieg“ von Stadnjuk oder „Tsushima“ von Nowikow-Priboi. Oder nehmen wir die Trilogie von Günther Hofe, der als Mitglied der NDPD eine beachtenswerte Trilogie (Roter Schnee, Merci Kamerad und Schlussakkord), die nun wahrhaftig nicht der Einheitspartei zuzuordnen ist, wird mit keiner Silbe in den Betrachtungen erwähnt. Aber alle die dadurch erzeugten Verhaltensmuster bei den NVA-Angehörigen hatten ein gemeinsames Anliegen: Nichts ist schlimmer als Gewalt und Krieg. Und da liegt die Basis für unser Traditionsverständnis, mit der sich der Autor, vor allem bei der NVA, schwer tut. 2/3 aller seit 1990 verfassten Beschreibungen über NVA oder DDR rufen bei mir Empfindungen hervor, die charakterisieren nicht in dieser, sondern in irgendeiner anderen Armee bzw. Land gedient und gelebt zu haben. Möglich, dass das subjektiv bei mir anders gelagert ist.

2. Um bei der NVA zu bleiben, hätte ich mit genau dergleichen O.enheit, wie viele kritische Moment angesprochen wurden, von einem Spezialisten auf dem Gebiet der Kultur deutscher Streitkräfte erwartet, dass er ein Mindestmaß an Distanzierung zu den mit der faschistischen Wehrmacht gleichsetzenden Aussagen gegenüber der NVA im aktuellen Traditionserlaß erkennen läßt. Ein Zustand schlimmster Verunglimpfung gegenüber der NVA, der selbst der Wehrmacht in dieser Form so nie zuteil wurde.

3. Kritisch muss auch für die Neuzeit erwähnt werden, dass die großen Zusammenhänge der Weltpolitik fehlen, in deren Ergebnis Kriege geführt werden und Streitkräfte zum Einsatz kommen. Ohne vom Hauptthema abschweifen zu müssen, hat die darüberstehende Einordnung einen maßgeblichen Anteil daran wie sich Kultur in den Streitkräften (Verhaltensmuster, Traditionen usw.) ausprägen und gelebt werden. Plötzlich ist man im „Krieg“ (Konflikt) in Jugoslawien 1995 und 1999. Solidarisch folgt die Bundeswehr den US-Streitkräften nach Afghanistan und weiß bis heute nicht warum sie dort ist und welche Traditionen sie dort verfolgen soll. Und urplötzlich ist die Krim und die Ukraine aus dem Nichts da, aber NATO, EU und somit auch die Bundesrepublik wissen genau wer die GUTEN und die BÖSEN sind. Alleine schon aus diesem Gesichtspunkt her ist es verwunderlich wie schwer sich die deutschen Krieger tun an militärische Traditionen anzuknüpfen oder sogar neue zu entwickeln.

4. Bei Betrachtung dieser nicht immer einfachen Problematik deutschen Kriegertums hätte der interessierte und vorbelastete Leser erwartet, das im vorliegenden Buch Gedanken entwickelt werden, welche riesige und einmalige Chance 1990 und in den darau.olgenden Jahren verpasst wurde, die Hauptthematik dieses Buches zugunsten Deutschlands und seiner Streitkräfte mindestens gedanklich zu formulieren. Hier geht es nicht darum das Beste aus Bundeswehr und NVA zu mixen. Vielleicht hätte, um den Vergleich innerhalb der Militärhistorie zu bemühen, der völlig neue Ansatz aus Dresden Pate stehen können, wo auf einmal die Kategorie Gewalt und Streitkräfte große Teile des Militärhistorischen Museum bestimmen und ein riesiger stählerner Keil das altehrwürdige klassizistische Waffenarsenal aus 1897 durchschneidet. Welch Skandal damals in Sachsens Elbflorenz! Heute dem Traditionsverständnis, im wahrsten Sinne des Wortes, „einen Schuh zu schustern“, der passen soll, ist bei dieser Kräftekonstellation in der Weltpolitik unmöglich und Deutschland muss aufpassen, dass nicht zum dritten Mal ein Krieg, insbesondere gegen Russland durch ihn vom Zaun gebrochen wird. Haben die Deutschen diesbezüglich wirklich etwas in ihren Genen? Ich bin froh, dass dahinter noch nichts Materielles steht und die Bundeswehr noch mit sich selbst zu sehr beschäftigt ist. Aber das kann sich in den nächsten 20 Jahren noch ändern. Die Menschen in Deutschland und auch die in Russland wollen keinen Krieg – weder heute noch morgen! Das muss Ausgangspunkt jeglichen traditionsstiftenden Denkens und Handelns sein.

Antworten des Autors:

Sehr geehrter Herr Goedde,
haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre Mail. Die NVA – ich muss es zugeben – ist in meiner Geschichtsbetrachtung doch arg knapp behandelt und hätte eigentlich umfangreicher thematisiert werden müssen. So ist vieles zweifellos nur angedeutet und auch zu schematisch dargestellt. Das Label „außen preußisch, innen sowjetisch“ nur eine Überschrift und zweifellos hat die NVA ihre ganz eigene Kultur gehabt. Aus meiner Sicht war sie gleichwohl viel stärker sowjetisiert als die Bundeswehr amerikanisiert. Und die Bundeswehr knüpfte, wie man das auch immer bewerten mag, an sehr viel preußisch-deutsche Traditionen an, was die NVA so eben nicht machte. Und dies ist m.E. auch der Grund, warum die NVA nach 1990 abgewickelt wurde. Es gab m.E. nur sehr wenig, was beide Armeen gemeinsam hatten – vor allem hatten sie keine gemeinsamen Wurzeln/Kulturen. Etwas wirklich Neues aufzubauen, dazu hätte die Wiedervereinigung anders verlaufen müssen. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gab ja die Strukturen bereits vor. Wichtig war mir nur die kulturellen Unterschiede beider Armeen herauszuarbeiten.

Sodann: Die „Die Stunde der toten Augen“ war bei den Fallschirmjägern und den Aufklärern des Heeres aus meiner Kenntnis und nach Befragung etlicher Zeitzeugen in der Tat so etwas wie eine Bibel. Und dies ist angesichts des Themas des Buches trotz allem Lobgesangs des dort erwähnten Leutnants der Roten Armee für mich doch überraschend gewesen. Aber in vielen anderen Truppenteilen, da haben Sie bestimmt recht, spielte das Buch keine große Rolle. Das hätte ich noch stärker differenzieren müssen. Eine generelle Wehrmachttradition in der NVA sehe ich nicht, im Gegenteil, die NVA  hat ja ganze neue Traditionslinien geschaffen, die ohne Wehrmacht auskam.

Schließlich: eine Verunglimpfung gegenüber der NVA erkenne ich im Traditionserlaß ehrlich gesagt nicht. Für mich war die Nationale Volksarmee (NVA) schon eine sozialistische Klassen- und Parteiarmee, die mit ihrem Selbstverständnis  sich an der Staatsideologie der DDR orientierte. Auch die Feststellung, dass die NVA von der SED geführt wurde, im Sinne ihrer Politik handelte und maßgeblich zu ihrer Herrschaftssicherung beitrug, ist aus meiner Sicht zutreffend. Dass die Wehrmacht zwar nicht de jure aber de facto in der Truppenrealität anders behandelt wird, liegt m.E. an den von mir beschriebenen langen Linien und Kontinuitäten. Von der Wehrmacht führte ein Weg in die Bundeswehr (ob man das heute nun gut findet oder nicht). Von der NVA aber nicht in die Bundeswehr, auch, weil das, was die NVA besonders gut konnte, nämlich kämpfen, m.E. in der Bw der 1990iger Jahre nicht mehr gefragt war.

Mit besten Grüßen aus Berlin,
Sönke Neitzel

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