Das letzte Gefecht

“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Das letzte Gefecht

Der Sommer nahte. Das Küstenraketenregiment der Volksmarine bereitete sich auf die nächsten Ausbildungshöhepunkte vor. Dazu gehörte die Geschwaderfahrt der Verbündeten Ostseeflotten, die unter dem Kommando von Vizeadmiral Born stand und vom 31. Mai bis zum 20. Juni 1990 in der Ostsee stattfand. Es war die letzte gemeinsame Aktivität aller drei Flotten. Von der Volksmarine nahmen das Küstenschutzschiff »Halle«, der Versorger »Mönchgut« und der Tanker »Usedom« teil. Die Baltische Flotte schickte die UAW-Schiffe »Bodry« und »Slawa« sowie den Tanker »Lena«. Von der Polnischen Seekriegsflotte kam der Raketenzerstörer »Warszawa«.

Welche Aufgaben diesem Verband vom Chef der Volksmarine gestellt werden sollten, war mir unbekannt. Die Aktivitäten unseres Regiments beschränkten sich auf einen kleinen Zeitraum. Mit anderen Worten: Der Schiffsverband erfüllte die ihm gestellten Aufgaben in eigener Zuständigkeit und zu einem festgelegten Zeitpunkt wurde er ein Bekämpfungsobjekt, an dem die Stoßkräfte der Volksmarine ihre Fähigkeiten im Zusammenwirken beweisen konnten. Zu den Stoßkräften gehörten die Schiffsschlaggruppen der 6. Flottille und die zugeteilten Schiffseinheiten der 24. Brigade aus Swinouicie (Swinemünde), die Küstenraketentruppen aus Schwarzenpfost und die Marineflieger des MFG-28 aus Laage. Dieses Zusammenwirken fand als Höhepunkt am 19. Juni 1990 in der südwestlichen Ostsee statt.

Die 1. KRA hatte, wie schon berichtet, ihre Abteilungsgefechtsübung mit Bravour bestanden. Die Geschwaderfahrt war ein Ausbildungshöhepunkt auch für diese Einheit. Ich schlug vor, eine Küstenraketenabteilung dezentral auf der Insel Rügen zu entfalten  und meldete mein Vorhaben dem Durchführenden für die Stoßkräfte, Kapitän zur See Murzynowski, dem Flottillenchef der 6. Flottille. Die 1. KRA verlegte auf den Südbug und hielt sich dort bereit, Aufgaben des Regiments bei der Bekämpfung von Überwasserkräften (in diesem Fall war das Geschwader die darstellenden Kräfte) zu erfüllen. Die 1. KRA konnte also eine Woche lang Ausbildung auf diesem idealen Übungsplatz absolvieren. Natürlich sollte auch die 2. KRA, die Seniorengarde, an diesem Ereignis teilhaben. Die Ausbildung der Berufssoldatenabteilung unter Führung des Fregattenkapitäns Schwarz konnte so fortgesetzt werden. Wir verlegten eine Startrampe mit einigen Führungsfahrzeugen in das leergeräumte Objekt nach Wustrow.

Die Idee meines Stellvertreters für Ausbildung, die 2. KRA als Kontrolleur einzusetzen, griff ich auf und verwirklichte sie. So erfuhren wir schon mal, welche Gefechtsergebnisse wir, die Küstenraketentruppen, und natürlich auch unsere Nachbarn im Zusammenwirken mit den anderen Stoßkräften erzielt hatten.

Das war ziemlich ungewöhnlich und wohl auch einmalig, als Schiedsrichter der eigenen Kräfte und auch der zusammenwirkenden Kräfte aufzutreten. Solche Extras gab es in der Vergangenheit nicht, die vielen Schiedsrichter und Kontrolleure hätten das auf irgendeine Weise unterbunden.

Am Morgen des 19. Juni verlegte der Stab mit ein paar Offizieren und einem mobilen Nachrichtensatz zum Gefechtstand der 6. Flottille auf Kap Arkona. Diese wenigen Kräfte reichten, um die KRT zu führen. Führen, das hieß, Nachrichtenverbindungen zur 1. KRA auf der Halbinsel Wittow herzustellen, zur 2. KRA, die auf dem Darß Stellung bezogen hatte und natürlich zum Schiffsfühlungshalter.

Kapitänleutnant Jähnig, ein sehr engagierter Nachrichtenoffizier, Fachmann durch und durch, verlegte immer einen heißen Draht zusätzlich. Es passierte nie, dass sein Kommandeur führungslos das Gefecht über sich ergehen lassen musste. Nichts war schlimmer als eine solche Situation. Sehr versierte Berufsunteroffiziere wie Stabsobermeister Jedaschko, Bohnenstengel, Obermeister Bauer, sowie die Chiffrierer Meister Brandt und Maat Zilinski sorgten für gute Verbindungen. Aber auch die Nachrichtensoldaten der Küstenraketenabteilungen beherrschten ihr Fach.

Am Vormittag fuhr ich nach Kap Arkona und meldete mich nach dem Eintreffen beim Hausherrn und Durchführenden der Übung. Der Countdown begann.

Kapitän Murzynowski ließ in der Einweisungsbesprechung die aktuelle Lage im Seegebiet durch seinen Lageoffizier melden und teilte uns seinen Entschluss mit, wie er mit seinen Schiffsschlaggruppen und den ihm zugeteilten KRT und Marinefliegerkräften die ihm gestellte Aufgabe zur Bekämpfung des Schiffsverbandes zu erfüllen gedachte. Er diktierte uns die Schlagzeit. Die Teilnehmer verließen das unterirdische Lagezentrum und begaben sich in ihre Operationsräume, die sich alle im unterirdisch verbunkerten Gefechtsstand befanden. Den ersten Schlag sollten die Schiffsschlaggruppen im Zusammenwirken mit den KRT aus unterschiedlichen Richtungen durchführen. Die Marineflieger sollten kurz darauf ihre Schläge zur Ausweitung des Erfolgs anbringen.

Ich erteilte dem Stabschef die notwendigen Befehle und er ließ die zwei Batterien der 1. KRA in die Warteräume verlegen. Dann wurde es spannend. Dem Kommandeur der 1. KRA wurde über Funk der Schiffsfühlungshalter mitgeteilt – ein Torpedoschnellboot. Es sollte sich entweder in einem geographisch günstigen Seegebiet unter Ausnutzung des Küstenstreifens, bzw. im Radarschatten von Inseln aufhalten oder als absoluter »Todeskandidat« vor den gegnerischen Kräften so »herumspringen«, um möglichst lange Informationen über den Gegner liefern zu können. Für raketeneinsetzende Kampfkräfte waren Informationen über die Schußpeilung und die Schußentfernung, gemessen von einem vereinbarten und vermessenen Küstenpunkt, z.B. einem Küstenorientierungspunkt, die allerwichtigsten Angaben. Die Schlagzeit war allen beteiligten Kräften bekannt. Nur durch das gleichzeitige Führen konzentrierter Schläge aus verschiedenen Richtungen können gegnerische Schiffsverbände oder einzelne Überwasserziele mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit bekämpft und deren Abwehrmöglichkeiten wesentlich eingeschränkt werden. Den Befehl zum Raketenangriff kann bei Übungen nur der Durchführende, also in diesem Fall Kapitän zur See Murzynowski durch ein Codewort aufheben.

Wir hörten mit, wie Fregattenkapitän Domigalle die Verbindung zum Schiffsfühlungshalter herstellte und die übermittelten Werte mitkoppelte und an die Batteriechefs übermittelte. Nichts anderes machten meine Stabsoffiziere Oberleutnant Stadler und Korvettenkapitän Herms. Der eine notierte im Gefechtstagebuch alle Befehle und Informationen, der andere koppelte auf der Seekarte alle Handlungen der eigenen und gegnerischen Kräfte mit. Die Schlagzeit ist, wie schon angedeutet, das Heiligtum des Raketenangriffs. Nur durch die strikte Einhaltung dieser Zeit lässt sich die gestellte Aufgabe erfüllen. Ich gab dem Kommandeur der 1. KRA den Befehl zum Raketenangriff. Die Startrampen verlegten in Batteriestruktur, also jeweils zwei Stück, in die kurz zuvor vermessenen Startstellungen. Schießt man mit Fühlungshalter, muss der eigene Standort genauso wie der Bezugspunkt, zu dem die Schußpeilung und Schußentfernung angelegt wird, genau stimmen.

Die Startrampen verlegten mit großer Geschwindigkeit, auf die Sekunde genau wurde der Startknopf gedrückt. Der Raketenstart liegt dann allein in Händen des Rampenkommandanten. Den Start der ersten Raketensalve, also acht Raketen, meldete Fregattenkapitän Domigalle an den Führungspunkt der KRT. Wir notierten und gaben die Meldung an das Informationszentrum des Gefechtsstandes der 6. Flottille. Alles wurde für die spätere Auswertung festgehalten. Sofort nach dem Start verlegten die Startrampen in den Nachladeraum, um neue Raketen zu übernehmen. Das ist für die Küstenraketenkräfte der verwundbarste Zeitabschnitt. Durch den Start der Raketen enttarnen sich die KRT. Jedes AWACS, jeder Aufklärungssatellit ortet spätestens zu diesem Zeitpunkt den Standort der handelnden Einheiten. Für die auf See handelnden gegnerischen Kräfte bleiben wir in der Regel unerkannt, vorausgesetzt wir werden nicht schon vorab durch andere Aufklärungskräfte enttarnt.

Innerhalb einer Stunde, also in der Normzeit, mussten die Startrampen unter jeden Bedingungen, ob Sommer oder Winter, Tag oder Nacht, Raketen nachladen. Das Zusammenspiel der raketentechnischen Sicherstellung und der Gefechtseinheiten muss klappen.

Gemäß dem Plan des Zusammenwirkens der beteiligten Kräfte griffen in dieser Zeit die Marinefliegerkräfte aus Laage (Jagdbomber Su-24M) den gegnerischen Schiffsverband (also das Geschwader der Vereinten Ostseeflotten) an. Sie schafften für uns die notwendige Zeit zum Nachladen und den Schnellbooten zur Umgruppierung für einen weiteren Wiederholungsschlag oder Dislozierung.

Der zweite Angriff fand schon nicht mehr zu den fast idealen Bedingungen statt wie der erste. Zwei Erscheinungen traten auf. Die erste war die, dass immer versucht wurde, die Realität durch Zeitsprünge zu überbrücken. Um es im herkömmlichen Sinne zu verdeutlichen, man befahl zu schießen ohne nachzuladen, also wie in einem Wildwestfilm und handelte sich bewusst oder unbewusst Realitätsferne ein. Die zweite Erscheinung war nun nicht vorgetäuscht. Es wurde offensichtlich, dass kurz vor dem Wiederholungsschlag das Funkmeßsystem des Fühlungshalters technisch ausgefallen war, ohne dass der Schiffsfühlungshalter es selbst merkte. So wurden während der Durchgabe der Peilungen und Distanzen kurz vor dem Raketenstart Werte berechnet, die bei der Auskopplung auf der Seekarte einen falschen Standort des gegnerischen Schiffsverbandes ergaben, was zur Folge hätte, dass die Raketen irgendwo in die Ostsee gesetzt worden wären, aber nicht ins Ziel.

In solchen Momenten wird man sehr kribbelig, schnelles Reagieren ist angesagt. Der Flottillenchef erhielt natürlich auch falsche und nicht verwertbare Schußwerte für seine Raketenschnellboote. In diesem Moment ist es ihm auch zweitrangig, ob nun die KRT richtige Fühlungshalterangaben bekommen oder nicht. In solchen Situationen stirbt jeder für sich allein. Auf die Angaben der 6. Flottille konnten wir uns also nicht verlassen, und wenn wir darauf warteten, dass sie den Fühlungshalter neu zuordneten und nochmals Angaben vom Ziel an die KRT übermittelten, wäre die x-Zeit nicht mehr erfüllbar gewesen. Guter Rat war also teuer.

Mein Stabschef schlug nach wenigen Sekunden vor, den Standort des Schiffsverbandes durch die 2. KRA, die auf dem Darß für sich intern die Ausbildung mit dem gleichen Schiffsverband durchführte, aber in das Gefecht nicht eingebunden war, feststellen zu lassen, um anschließend den Wiederholungsschlag befehlsgemäß auf den richtigen Standort des Geschwaders anzubringen. Mit anderen Worten, unser Schiedsrichter und Kontrolleur wurde zum »Turm« in diesem Schachspiel, der von entfernter und relativ sicherer Stelle aus dem Gegner das »Schach« bot. Dabei lief er aber Gefahr, sich zu enttarnen und preiszugeben. Das ist ein Risiko. Der Kommandeur muss sich im Gefecht sofort entscheiden und trägt die volle Verantwortung.

Ich stimmte diesem Vorschlag nach kurzem Bedenken zu, denn Glück und Risiko gehören auch zum Waffenhandwerk. Die Funkverbindung stand und sofort übermittelte Fregattenkapitän Schwarz die Koordinaten des Schiffsverbandes. Das lief wahrhaftig in Sekundenschnelle ab. Die Peilung und Distanz konnten noch zweimal an die 1. KRA übermittelt und korrigiert werden, dann schossen schon die Rampenkommandeure zur errechneten Startzeit. Die Schiffskräfte ebenfalls. Jetzt hieß es die Schußwerte auszukoppeln. Wenige Minuten später gratulierte ich meinem Stabschef und den vor mir am Kartentisch sitzenden Stabsoffizieren. Ergebnis: Treffer.

Ich befahl dem Stabschef, die Kräfte in die Ausgangsräume zurückzuverlegen und begab mich in den Lageraum des Flottillenchefs. Hier herrschte eine nicht zu übersehende Spannung. Offensichtlich war etwas schiefgelaufen. Ich schaute auf die Seekarte und stellte fest, dass die Schiffschlaggruppen in ein Seegebiet geschossen hatten, das wohl durch das Geschwader nie durchfahren wurde. Ich meldete die Erfüllung der Aufgabe an den FCH  und ging in meinen cap (so nannte ich den fünf Mal zweieinhalb Meter kleinen Operationsraum der KRT innerhalb des unterirdischen Gefechtstandes).

Als ich eintrat, sagte Korvettenkapitän Herms: »Herr Kapitän, haben Sie mal gesehen, wohin die 6. Flottille geschossen hat?« Er zeigte mit dem Bleistift auf die vor ihm liegende Seekarte. Kapitän Herms hatte sogar in der Hast der letzten Sekunden noch die Zeit gefunden, um die Bewegungsdaten der 6. Flottille weiter aufzuzeichnen. Er kam zur gleichen Erkenntnis wie ich. Ich nickte, und wir freuten uns, dass wenigstens wir die Aufgabe erfüllt hatten.

Es wurde im Gefechtsstand Entwarnung gegeben, und über die Wechselsprechanlage kam der Befehl zur Wiederherstellung der Gefechtsbereitschaft. Die Übung war beendet. Es war die letzte Gefechtsübung der Stoßkräfte der Volksmarine. Das wusste aber keiner zu diesem Zeitpunkt.

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