Der letzte Waffenkauf der DDR

“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Der letzte Waffenkauf der DDR

Ende März klingelte bei mir das Telefon. Die Militärtransportkommandantur Frankfurt (Oder) teilte mir mit: Im Frankfurter Abfertigungsbahnhof stehen fünf Eisenbahnwaggons aus der Sowjetunion zur Abholung bereit. Wir sollten umgehend den Transport übernehmen und ihn bis zum Anschlussgleis Schwarzenpfost begleiten. Ich wusste sofort, das sind zwei neue Startrampen. Mit der Lieferung realisierte die Sowjetunion schlicht und einfach den Fünf-Jahres-Spezialimport-Plan der Volksmarine.

Dem KRR-18 fehlten, um nach sowjetischer Struktur ein Regiment zu sein, noch vier Startrampen. Vor Jahren bestellt, kamen nun im März die ersten zwei und im Juli sollten die restlichen folgen.

Diese Nachricht löste bei mir zwei Gedanken aus. Erstens: Macht das einen Sinn, jetzt noch Großtechnik zu importieren, wo keiner weiß, was aus der NVA und der Marine werden soll? Zweitens: Ist diese Beschaffungsmaßahme ein Vorbote künftiger Streitkräfteplanung? Schafft irgendjemand Großgerät für 40 Millionen Mark an, um es dann zu verschrotten? Es kam Hoffnung auf. Als ich noch nach einer plausiblen Antwort suchte, gab es im Regiment schon die ersten Gerüchte. Ein klares Zeichen von der vorgesetzten Dienststelle kam nicht. Im Gegenteil, wir hatten mit der folgenden Entscheidung nichts mehr zu tun. Nichts Schlimmeres gibt es, als Menschen in solchen Situationen unzureichend zu informieren.

Unsere Ausbildung stand nach wie vor im Vordergrund, dennoch ließen wahrscheinlich keinen die Gedanken an die Startrampen los. Ich redete mit meinen Unterstellten Klartext. Zwischenzeitlich standen die Waggons in einer NVA-Dienststelle.

Es dauerte lange, bis der Minister, der einzige Entscheidungsbefugte – es ging immerhin um runde 40 Millionen Mark – davon erfuhr und eine Entscheidung herbeiführte. Gerade hatte er sich durchgerungen, die NVA als eigenständige Armee in das vereinte Deutschland einzubringen und nun sollte er auch noch zwei Startrampen kaufen. Später erfuhr ich, dass er die Spezialimporte eigentlich zurückweisen wollte, doch die sowjetischen Lieferanten beriefen sich auf ein gültiges Regierungsabkommen. Beide Seiten einigten sich, dass die DDR die ersten zwei Rampen übernimmt und die Juli-Lieferung ausgesetzt wird.

Was sollte man Außenstehenden antworten, wenn sie sagten: »Ihr habt’s gut, bekommt sogar schon neue Technik. Eure Zukunft ist bestimmt gesichert.« Sollte man in dieser Situation eine umfassende Erklärung abgeben, die man sowieso nicht belegen konnte? Im Gegenteil. Jeder war froh und ein wenig stolz. Froh, endlich mal ein paar optimistischere Worte in dieser fragwürdigen Zeit zu hören, stolz sicher nicht nur deshalb, zu einer interessanten Waffengattung zu gehören, sondern auch in einem Truppenteil zu dienen, in dem die Atmosphäre im Großen und Ganzen stimmte.

Erst in den letzten Tagen des Monats Mai erreichte uns die Nachricht: Die Startrampen kommen in das Küstenraketenregiment. Die Startrampen standen zwei Tage später am Anschlussgleis im Objekt Schwarzenpfost. Sechs Vertreter des Herstellerwerks aus Uralsk trafen ebenfalls ein.

Einige kannte ich von 1989. Damals kam eine zehnköpfige Spezialistentruppe vom Hersteller in unser Regiment. Es ging um Nutzungserfahrungen unserer ältesten Startrampen. Denn die ersten zwei sowjetischen Startrampen stellte die DDR schon 1980 in Dienst. Ich glaube, es waren die Werksnummern 502 und 602. Keine Rampe war so alt wie unsere. Man konnte eine Reihe von technischen Schlussfolgerungen aus den letzten zehn Jahren ziehen. Wie veränderten sich die einzelnen Materialien? Wie hoch waren die Ausfallraten der Baugruppen und Systeme? Wurden alle Wartungen vorschriftsgemäß durchgeführt? Das Wichtigste waren natürlich die Empfehlungen für die weitere Nutzung. Im Ergebnis dieser technischen Überprüfung verlängerte man die Nutzungsfrist für weitere zehn Jahre. Diese Prüfung bestand das Regiment damals mit Bravour. Es bewies, welche hohe spezialfachliche Qualifikation das Stammpersonal besaß. Hier fallen mir auf Anhieb Namen wie Korvettenkapitän Frank Hösel, Stabsoberfähnrich Gerd Höne, Kapitänleutnant Bochmann, Stabsobermeister Ralf Jedaschko und viele andere ein, die mit dieser Kampftechnik groß geworden sind.  Keine von den Startrampen musste je zur mittleren und Hauptinstandsetzung. Das meiste schaffte das Regiment mit eigenen Kräften und Mitteln.

In der Bundesmarine führen dagegen solche Arbeiten ausschließlich zivile Servicefirmen aus. Ich glaube kaum, dass ein leitender Ingenieur aus einem Schnellbootgeschwader der Bundesmarine die Hauptmaschine seines Bootes in eigener Verantwortung wechseln kann. Das gehörte, wie viele ähnlich gelagerte Reparaturen, zum Standard erfahrener Berufssoldaten in der NVA. Mögen die Ursachen dafür im defizitären wirtschaftlichen Bereich gelegen haben, mag es angenehmer sein, diese Arbeiten hochqualifiziertem und zivilem Fachpersonal zu überlassen, im Ernstfall hätten wir entschieden bessere Karten gehabt. Die Kosten einer Mittleren Instandsetzung (MI) eines Antriebmotors M 503, dieser wurde auf den Raketenschnellbooten der Projekt 205 (OSA-1) gefahren, kostete im Instandsetzungswerk in Wurzen 370.000 Mark. Die MI eines ganzen Schnellbootes dieses Typs belief sich auf 3,5 Millionen Mark. Wer also mit anpackte und ein hohes technisches Know-how hatte, konnte Kosten sparen und verbesserte seine fachliche Kompetenz.

Die Startrampen waren da, die Spezialisten ebenfalls. Natürlich hatten wir auch eine Unterstützungsgruppe unter Leitung von Kaleu Bochmann gebildet. Aus dem Bestand des Werkstattpersonals für Hauptbewaffnung wurden Stabsobermeister Peter, Obermeister Suckow ausgewählt, aus dem Bereich Kfz wurde Stabsoberfähnrich Prasser kommandiert, und aus dem Kreis ehemaliger und jetziger erfahrener Rampenkommandeure befahl ich Kapitänleutnant Walter und Leutnant Junghahn zu dieser Gruppe. Jede Erfahrung, die die Indienststellung dieser Rampen vermittelte, übernahmen wir so in den technischen Erfahrungsfonds des KRR-18. Selbst der parallel laufende Untergang der DDR änderte diese Praxis nicht.

Eine Besonderheit begleitete die technische Indienststellung dieser beiden Rampen. Wir befanden uns schon weit in der ersten Dekade des Monats Juni 1990, am 1. Juli sollte gemäß des Einigungsvertrages zwischen DDR und Bundesrepublik die Währungsunion stattfinden. Die Sowjets setzten somit den Abschlußtermin fest, und der hieß knapp und bündig: Am 30. Juni 1990, spätestens 24 Uhr überschreitet die Spezialistentruppe die Grenze der DDR in Richtung UdSSR.

Die Erfahrungen besagten, dass zirka ein Monat je Startrampe zu veranschlagen ist. Also mussten wir gemeinsam mehr als das doppelte Pensum bewältigen. Die gemeinsame deutsch-sowjetische Spezialistentruppe hielt sich nicht lange bei Vorreden auf und begann die Entladung der Eisenbahnwaggons mit anschließender Montage. Das ging natürlich relativ schnell: Rampe vom Waggon fahren, mit speziellen Lastaufnahmemitteln die Gefechtskabine aufsetzen, gleiches geschah mit den Startcontainern.

Schon am Abend des ersten Arbeitstages rollten beide Startrampen in ihr neues Objekt. Dann begannen die Entkonservierungs- und die wohl umfangreicheren und aufwendigeren Abstimmarbeiten jedes einzelnen Systems, Aggregats oder Baugruppe und die Funktionsüberprüfungen. Durchschnittlich arbeiteten die Beteiligten täglich zehn Stunden. Die sowjetischen Spezialisten waren sich als Hersteller dieser Kampftechnik bewusst, dass hier Technik gefechtsklar gemacht wurde, die demnächst in den Bestand der Bundesrepublik übergehen sollte. »Zeigt der Bundesmarine, welche erstklassige Kampftechnik wir euch verkauft haben«, sagten sie.

Die angestrengte Arbeit zahlte sich aus, am 29. Juni 1990 übergaben sie die Rampen einschließlich der Dokumentation. Zur offiziellen Übernahme reisten Vertreter aller zuständigen Einrichtungen an. Die Abgesandten des Herstellers, zu ihnen gesellten sich die Vertreter der Hauptverwaltung Technik des Ministeriums für ausländische ökonomische Verbindungen der UdSSR, der ITA und der Eigentümer, der Raketen- und Waffentechnische Dienst der Volksmarine. So kaufte die DDR noch Stunden vor ihrem wirtschaftlichen Anschluss an die Bundesrepublik noch je zehn Millionen DM teure sowjetische Startrampen, deren genaue Zweckbestimmung zu diesem Zeitpunkt niemand kannte.

In der Klubbaracke des Küstenraketenregiments besiegelten die Offiziellen den vermutlich letzten Waffenkauf der DDR von der Sowjetunion mit vier Unterschriften auf dem Übergabe-Übernahme-Akt und dem dazugehörigen Arbeitsprotokoll. Die sowjetischen Freunde verabschiedeten sich herzlich. Eile war geboten.

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