“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Soldaten ohne Heimat
Punkt halb sieben stand wie immer Matrose Kubitzke mit dem Wartburg in Rostock-Toitenwinkel, vor dem Wohnblock in der Olof-Palme-Straße. An diesem sonnigen Donnerstagmorgen schien eigentlich alles wie gewohnt. Doch meine Uniform sah anders aus. Es fehlten die gewohnten silbernen Schulterstücke nebst Schlaufen und Knöpfen. Als Dienstgradbezeichnung trug ich an den Ärmeln nun die in der Bundesmarine üblichen sogenannten Kolbenringe. An der Volksmarineuniform reduzierte sich die Dienstgradbezeichnung auf ein Gewebestück der Größe 10 mal 7 Zentimeter, das an jeden Ärmel eine Handbreit über dem Ärmelende angenäht war.
Es sah alles ein bisschen abenteuerlich aus. Angeblich konnte die Bundesmarine zu diesem Zeitpunkt nicht alle Berufssoldaten, die aus der NVA kamen, mit den neuen schwarzen Anzügen ausrüsten.
Warum sollte man noch viel Geld investieren, da die meisten von uns sowieso keine Zukunft in dieser Armee hatten. Übrigens lagen die 6-Knopf-Jackett-Uniformen seit Oktober in Waren.33 Viel später, einige Tage vor meiner Entlassung, bekam ich einen echten Bundesmarineanzug. Als Andenken hängt er nun in meinem Schrank.
Auch die Interimsspange der Medaillen, Orden und anderer Abzeichen trug ich nicht mehr. Heute denke ich darüber nach, ob es Befehle, Anordnungen oder ähnliches gab, die dies regelten oder festlegten. Ich kann mich nicht daran erinnern. Gefühlsmäßig legte ich wohl alles ab, was früher für mich ganz normal gewesen war. Warum entfernte ich zum Beispiel das Absolventenzeichen der Militärakademie »Friedrich Engels« von der Uniform und warum trug ich nicht mehr den Anstecker für den Friedrich-Engels-Preis? 34 Anpassung an den neuen Dienstherren? Damals dachte ich nicht darüber nach.
Alles verschwand, was äußerlich auf NVA oder DDR hinwies, und wir regten uns darüber nicht im Geringsten auf.
An diesem Donnerstagmorgen fuhren wir, nachdem wir festgestellt hatten, daß wir trotz der anderen Uniform die alten geblieben waren, nach Schwarzenpfost. Der Diensthabende, auch im gemischten Volksmarine-Bundesmarine-Look, kam mit einem für uns ungewohnten »Schunkelschritt« auf mich zu und meldete. Früher gab es ein straffes und lautes »Achtung!«, und der Offizier vom Dienst (OvD) exerzierte drei, vier Schritte dem Regimentskommandeur oder an Bord dem Brigadechef an der Stelling entgegen, bevor er mit zackiger Grußerweisung meldete bzw. Seite pfiff. Das neue Ritual erschien mir unmilitärisch und ich setzte die morgendliche Meldung des OvD für immer aus.
Wie jeder andere ging ich nun durchs KDL, begrüßte mit Handschlag den Wachmann und unterhielt mich einfach mit ihm. Was sollten denn jetzt noch für Ereignisse eintreten, über die ich gleich am Eingangstor informiert werden müsste. Ich ging in mein Dienstzimmer. Auch dort hatte sich einiges verändert.
Es fehlte die große Schrankvitrine, in der einst die Truppenfahne stand. Das Bild von Erich Honecker hatte ich schon gleich nach seinem Sturz entfernt. Einen neuen politischen Kopf wollte damals weder Kapitän zur See Dix noch ich im Nacken haben. Die Wand wirkte kahl.
Ich ließ ein Foto des letzten Raketenstarts von 1989 vergrößern, auf Sperrholz aufziehen, rahmen und aufhängen. Nun füllte es die gesamte Wand aus – leider nicht in Farbe, aber das Schwarz-Weiß-Foto war billiger und passte besser zur Situation des Küstenraketenregiments.
Mit dieser Erinnerung im Rücken ordnete ich nun den Tagesplan und nahm die Meldung der Abteilungskommandeure und Stellvertreter entgegen. Ungewohnt und traurig klangen die Stimmen der alten Mitstreiter, wenn sie sich am Telefon meldeten. Die meisten betonten nun besonders ihren neuen, niederen Dienstgrad. Ich spürte ihre Demütigung.
Bevor die Unterstützungsgruppe eintraf, erwartete ich noch Gäste. Kapitänleutnant Schiller nebst Frau und Fregattenkapitän Himmerkus plus Sohn kamen zu einem Kurzbesuch ins KRR. Wir begrüßten uns, als wären wir schon jahrelang Bekannte und Freunde. Ich zeigte ihnen das Stabsgebäude und lud sie in mein Arbeitszimmer ein. Bei Kaffee und Kuchen unterhielten wir uns noch einmal über unsere privat organisierte Vereinigungsfeier mit all den neuen Eindrücken und Begegnungen, die für beide Seiten nicht nur interessant waren, sondern auch das gegenseitige Verständnis gefördert hatten – eine beispielhafte deutsch-deutsche Annäherung.
Mein Stellvertreter für Raketenbewaffnung fuhr eine Startrampe an die Waschrampe und bereitete für unsere Gäste eine kleine Demonstration vor.
In der Zwischenzeit zeigte ich ihnen die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« die auf meinem Schreibtisch lag. In der Ausgabe vom 4. Oktober 1990 stand ein von mir geschaltetes Inserat im großen Stellenmarkt. Wochen zuvor hatte ich mich entschieden, diese Annonce aufzugeben, sie kostete über 500 DM. Mein erster Versuch, mich als »Führungspersönlichkeit« zu vermarkten. Ich begab mich also in eine für mich völlig neue Welt. Meine Gäste, die zwei Bundesmarineoffiziere, waren in ihr aufgewachsen. Das unterschied uns. Und trotzdem fanden wir uns sympathisch. Herzlich verabschiedete ich mich von Kapitänleutnant Schiller und Fregattenkapitän Himmerkus.
Alte Rituale mit neuen Köpfen
Nun bekam ich die Nachricht, daß die Unterstützungsgruppe eingetroffen sei. In Sekundenschnelle lief ein Gedankenfilm vor mir ab. Was mögen das für Menschen sein? Einige westdeutsche Soldaten und sogar ein Bischof weilten schon im KRR-18. Sie kamen, wir unterhielten uns, und sie gingen wieder. Es veränderte sich nichts. Die, die heute kommen, verlassen sehr wahrscheinlich nach dir das Regiment. Sie werden verändern, vieles auf den Kopf stellen. Konkretes weißt du noch nicht, dem Gefühl nach bist du auf alles vorbereitet. Ab heute wird nichts mehr so sein, wie es früher war. Gestern sind sie meiner Einladung, aus was für Gründen auch immer, nicht gefolgt. Ja, sie haben sich nicht einmal entschuldigt. Wie wirst du mit denen auskommen? Hass, nein, Schicksal, innere Fügung, Verbitterung?
In der NVA war es üblich, wenn der Vorgesetzte im unterstellten Truppenteil ankam, daß der Kommandeur ihn an der Objektgrenze begrüßte, in der Regel also am KDL. Der Leiter der Unterstützungsgruppe besaß natürlich den Status eines neuen Vorgesetzten. So sehr ich diese ungeschriebene Verhaltensregel anerkannte, in diesem Fall konnte ich ihr nicht folgen. Die Westdeutschen, die hier das Licht auszuschalten hatten, wollte ich nicht schon am Eingang herzlich willkommen heißen. Ich ging ins Vorzimmer, wo Petra Zülow nicht minder aufgeregt an ihrem Schreibtisch saß.
Ich schaute aus dem Fenster auf die schmale Betonstraße mit der kleinen Parktasche vor dem Stabsgebäude. Ein VW-Bus der Bundeswehr fuhr im Schritttempo hinter einem Wachmann her, der das Fahrzeug zum Stab lotste. Als der Wagen hielt, packten die Insassen ohne Umschweife Taschen und viele Metallkoffer aus.
Ich ging auf den Flur, um die Ankömmlinge wenigstens vor meiner Tür in Empfang zu nehmen. Schnellen Schrittes kam ein älterer, hagerer Fregattenkapitän die Treppe herauf. Ich begrüßte den Leiter der Unterstützungsgruppe Eicke. Auch die anderen keuchten jetzt, mit Koffern und Taschen bepackt, die Treppe herauf. Ich zeigte jedem die vorbereiteten Arbeitsräume.
Sie begannen sofort, alles auszupacken. Als ich das ehemalige Arbeitszimmer meines Stellvertreters für RD und das jetzige Zimmer des LUg betrat, schlug Kapitän Eicke mit einem Hammer Nägel in die Wand. Mehrere DIN A5 große schwarz-weiße Porträts hingen dort schon. Weizsäcker, Stoltenberg und Wellershof, das Foto von Admiral Mann platzierte er gerade als letztes in die genannte Reihe. Mit vielem hatte ich gerechnet, aber damit nicht. Vor Tagen hingen dort noch Stoph und Keßler, nun begannen schon wieder die alten Rituale mit neuen Köpfen. Später las ich in den Memoiren von Jörg Schönbohm, was der Befehlshaber Ost Tage vor dem 3. Oktober gesagt hatte, als er Bundeswehrsoldaten für das Beitrittsgebiet einwies: »Es gelte vom ersten Tag an, Glaubwürdigkeit zu beweisen und damit Vertrauen zu schaffen…«35. Offensichtlich musste Kapitän Eicke an dieser letzten Einweisung des Befehlshabers nicht teilgenommen haben.
Anschließend erwartete ich die Gruppe in meinem Arbeitszimmer, ich bat die Herren, Platz zu nehmen. Meine Sekretärin Petra kochte einen starken Kaffee, wie gewohnt brühte sie ihn türkisch.
Mitglieder der gerade aus dem Westen angereisten Unterstützungsgruppe rührten irritiert in ihren Tassen herum und beobachteten erschreckt den herumschwimmenden Kaffeesatz. Sie erlitten wohl gerade einen Kulturschock. Schnell gefasst versicherten sie, es sei schon alles okay und tranken ziemlich verunsichert dieses Gebräu. Ab diesem Zeitpunkt gab es für Gäste nur noch in der Kaffeemaschine zubereiteten und gefilterten Kaffee bei mir zu trinken. Petra bereitete für uns aber weiterhin auf diese archaische Weise den Kaffee.
Die am Tisch sitzenden Herren wollten nun unverzüglich zur Sache kommen. Ich stellte mich und meinen beruflichen Werdegang vor und berichtete kurz über den aktuellen Stand des KRR. Neudeutsch heißt das wohl »Briefing«. Aber das Wort lernte ich erst später kennen.
In meinen Bericht gab ich zu verstehen, daß es eigentlich nicht der Unterstützungsgruppe bedürfe, um das KRR aufzulösen. Daß die Bundesmarine unserem Truppenteil dennoch solche Bedeutung schenke, ehre uns, aber es hätte auch ausgereicht, wenn ein Berufssoldat/Verbindungsoffizier vor Ort gewesen wäre, um die Abrüstung im annähernd gleichen Zeitrahmen zu verwirklichen. Mir war von vornherein klar, daß kein westdeutscher Soldat oder Angestellter auch nur einen Finger bei der praktischen Umsetzung rühren würde.
In der gesamten Marine Ost waren 85 Soldaten aus der Bundesmarine und 15 Beamte aus den Wehrverwaltungen eingesetzt; sieben weilten allein im KRR-18.
Anschließend bat ich Fregattenkapitän Eicke, seine Aufgaben zu umreißen. Ich wollte mir ein Bild über unsere beginnende Zusammenarbeit machen. Als Fregattenkapitän Eicke begann, verstand ich, weshalb seine Truppe so groß war. Das Küstenraketenregiment der ehemaligen Volksmarine sollte er bis zum 30. November 1990 personell und materiell auflösen. So, damit stand jetzt auch der zeitliche Rahmen fest. Diese Eile, mit der es jetzt losgehen sollte, verwunderte mich doch ein bisschen. Obwohl ich wusste, daß Abbauen, Abreißen und Aufgeben immer schneller geht als etwas aufzubauen. Auf Grund meiner Kenntnisse über das KRR und der schon bis zum damaligen Tag erbrachten Leistungen fand ich diesen Termin unrealistisch und nicht umsetzbar. Die Herren glaubten mir nicht, ihnen fehlte verständlicherweise der Überblick und die Sachkenntnis.
Es lag aber auf der Hand, daß die gesamte Organisations- und Strukturveränderung von NVA auf Bundeswehr erst viel später greifen würden. Die Bundesmarine unterschätzte einfach die Schwierigkeiten infrastruktureller Übergangsprozesse. Gesellschaftspolitisch wollte ich den Übergang schon gar nicht bewerten. Es deprimierte mich nicht, es machte mich wütend. Und ich fragte mich, wozu wir im Vorfeld so viel Gedanken ausgetauscht hatten. Offensichtlich ging es nicht um fachliche, sondern um politische Lösungen. Die Dauer der eigentlichen Auflösung des Regiments gab mir übrigens recht.
Ich wollte mich aber nicht mehr ärgern, mich nicht mit den Angehörigen der Unterstützungsgruppe streiten, nicht den Ast absägen, auf dem ich saß, aber ich wollte von den Westdeutschen lernen, was ich für mein persönliches Leben in der Bundesrepublik brauchte.
Was bedeutete es, ob Fregattenkapitän Eicke am 30. November 1990 oder erst zwei Monate später Vollzug meldete? Einsetzen und kämpfen wollte ich mich nur noch für einen sozialen Abgang meiner Unterstellten und für meinen eigenen Ausstieg.
Nachdem wir in unserer ersten gemeinsamen Sitzung ausreichend Informationen ausgetauscht hatten, stand der vorläufige Fahrplan fest. Erst später merkte die Unterstützungsgruppe, auf was sie sich mit dem Termin eingelassen hatte. Sie versuchte, den Plan zu modifizieren und begann später, den Zieltermin und den Inhalt zu korrigieren.
Die Mentalität der Westdeutschen
Zum vereinbarten Termin versammelte sich der Personalbestand des KRR im Kinosaal. Dieses erste Zusammentreffen hinterließ bei mir zwei wichtige Erkenntnisse. Hier ging es nicht mehr um Hausherr und Gast, sondern um eine neue Art des Zusammenlebens und -wirkens. Fregattenkapitän Eicke hielt sich mit den entscheidenden Aussagen sehr zurück und nannte nicht einmal den konkreten Zieltermin der Auflösung des KRR.
Das konnte nur zu Missverständnissen und falschen Hoffnungen führen.
Hatte der LUg vor diesem Auditorium die Courage verloren? Ich forderte Kapitän Eicke auf, die konkrete Aufgabe mit den geplanten Eckterminen so zu benennen, wie er sie mir bekanntgegeben hatte. Aus Enttäuschung über seine Salamitaktik schlug ich dabei einen etwas schärferen Ton an.
Ich erkannte an diesem Nachmittag eine westdeutsche Mentalität, der ich in meinem weiteren Leben in den alten Bundesländer nicht selten begegnete: Ein ganz konkretes Ziel im Auge zu haben, aber eine abwartende, teilweise nicht deutlich erkennbare, manchmal loyale, ja sogar freundschaftliche, manchmal auch eine scheinbar gleichgültige Stellung beziehen. Kam dann aber der entscheidende Moment, setzt man alle zur Verfügung stehenden Kräfte ein, um das Ziel zu erreichen.
Dies Lavieren entsprach nicht meiner Mentalität. Wenn ich dafür war, dann war ich dafür, wenn ich dagegen war, brachte ich auch dies zum Ausdruck.
Wir aus dem Osten wirkten kompromissloser, zielgerichteter, offener und positionsklarer. Man kann auch sagen offener, ehrlicher und dabei natürlich auch naiver. Wir gaben zu, wenn wir in einer Sackgasse steckten. Dabei wirkten wir in unserer Art bisweilen steif, gedrechselt, weniger lebendig. So bedauerte man uns oder stufte uns in eine entsprechend primitivere Kategorie Mensch ein.
Da ich nicht bereit war, meine Haltung gleich am ersten Arbeitstag im vereinten Deutschland abzulegen, brachte ich natürlich die U-Gruppe und ihren Leiter genau in die Position, die ihnen nicht genehm war. Sie mussten so auftreten, wie sie sich fühlten: als Auflöser und Sieger.
Auf dem kurzen Rückweg in den Stab äußerte Kapitän Eicke seine Unzufriedenheit über seinen misslungenen Start im KRR. Offensichtlich passte das nicht in sein Konzept. Doch mir ging es darum, die gesamte Belegschaft nicht länger hinzuhalten. Einmal musste Schluss damit sein. Damit gab ich den Mitgliedern der U-Gruppe zwar Gesprächsstoff über meine fehlende Beweglichkeit, meine Steifheit und mangelnde Kompromißfähigkeit, aber sie wussten jetzt, woran sie an mir waren. Trotzdem wollte ich keinen Konfrontationskurs einschlagen, im Gegenteil, ich war an einem harmonischen Verhältnis interessiert, obwohl für mich eine Weiterverwendung in den Streitkräften aussichtslos schien.
Deshalb wollte ich lernen, mich in dem für mich neuen Leben in der Bundesrepublik zurechtzufinden. Einen mir angebotenen Lehrgang an der Führungsakademie in Hamburg nutzte ich dafür, auch wenn die Teilnahme nicht über die Weiterverwendung in der Bundesmarine entschied, wie es auf dem Ankündigungsschreiben stand. Ich wäre auch zu einem zweiwöchigen Workshop der Bildenden Künste nach Hamburg gefahren. Mir schien es höchste Zeit zu sein, die Westdeutschen und ihr Land kennenzulernen, um meine eigene Zukunft besser gestalten zu können.
Ich übergab also die Dienstgeschäfte an den Stabschef und meldete mich bei Kapitän Eicke für vierzehn Tage nach Hamburg ab. Nie ist es mir so leicht gefallen, mich von meiner gewohnten Aufgabe und meiner Umgebung in Schwarzenpfost zu verabschieden. Also, Sankt Pauli sei gegrüßt.
An der Führungsakademie
Die Teilnahme an diesem Funktions- und Sonderlehrgang in der Führungsakademie der Bundeswehr (FüAkBw) erschien mir wie ein Kuraufenthalt. Die Würfel im zurückgelassenen Küstenraketenregiment waren gefallen. Hier konnte ich anfangen, eine neue Lebensweise zu erlernen. Was ist für mich persönlich wertvoll? Welche Vergleiche zu dem bisher Erlebten bieten sich an? Wie kann ich das ramponierte Bild des NVA-Soldaten, diese oder jene falsche Darstellung korrigieren?
Mit diesen Gedanken brauste ich mit dem »Wartburg« nach Hamburg und landete dort im vornehmen Stadtteil Blankenese. Der Sonderlehrgang MilLdVg fand in der FüAkBw, in der Clausewitz-Kaserne statt. Schnell gewöhnte ich mich an neue Worte, Abkürzungen und deren Bedeutung.
Um bei den ehemaligen NVA-Offizieren ein gewisses Verständnis der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik Deutschland zu entwickeln, veranstaltete die Bundeswehr im ersten Monat nach der Vereinigung nicht wenige Funktions- und Sonderlehrgänge. Der, an dem ich nun teilnahm, widmete sich der militärischen Landesverteidigung. Da ich zum gleichen Thema an der Dresdener Akademie Vorlesungen und Seminare gehört hatte, interessierte ich mich nun für das Gegenstück.
Ich wohnte im Gebäude 23, einem mehrstöckigen Wohnheim, und bezog dort ein großzügiges Einzelzimmer. Die Ausstattung unterschied sich nicht wesentlich von der im Wohnheim in Dresden. Doch in diesem großen Zimmer wären an der Militärakademie (MAK) in Dresden drei Offiziershörer untergebracht worden. Wir mussten damals unsere Zimmer selber reinigen, hier gab es Personal dafür, meist ausländische Mitbürger.
Das großzügig angelegte Gelände wirkte kaum wie eine militärische Einrichtung, wenn nicht die meisten Passanten Uniformierte gewesen wären. Die Straßennamen innerhalb des Akademiegeländes waren uns ehemaligen NVA-Soldaten noch nicht so geläufig: Breslauer Straße, Königsberger Straße oder Tilsiter Straße. Aber es gab auch eine Rostocker Straße. Ich dachte amüsiert daran, den Münsteraner Platz in Karl-Marx-Stadt-Platz umzubenennen.
Als Lehrgangsleiter fungierte der Oberst im Generalstab (i.G.) Strauß. Bei der Vorstellungsrunde der Teilnehmer im Salon traf ich ein paar Bekannte: Volker Boche, Chef der 7. Brigade Dranske/Bug, Gert Wilhelm, Kommandeur des MHG-18 Stralsund-Parow, Peter Siesing, Oberoffizier Sicherstellung MAVg Strausberg und Wilfried Anders, FlaggOffizier Schiffsführung Marinekommando Rostock. Die restlichen Teilnehmer aus dem Osten kamen aus anderen Teilstreitkräften. Zu unserer Gruppe gehörten auch vier ältere westdeutsche Soldaten und ein ziviler Beamter. Offensichtlich legte man mehr Wert auf Wissensvermittlung als auf direkte personelle Ost-West-Kontakte.
Am nächsten Tag begann der Unterricht mit Vorträgen und Seminaren – die Hauptunterrichtsformen. Die Themen: Auftrag und Organisation der FüAkBw, Grundlagen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, militärstrategische Konzeptionen der NATO, Nationale und völkerrechtliche Rechtsgrundlagen für den Einsatz von Streitkräften, Vorsorgegesetzgebung in der Bundesrepublik Deutschland.
Anschaulicher und lebensnäher empfand ich den Besuch des Verteidigungsbezirkskommandos-25 (VBK-25) und der Bezirksregierung in Lüneburg. Wir lernten die Aufgaben und die Organisation eines VBK kennen und auch den Aufbau sowie die Struktur der inneren Verwaltung einer Bezirksregierung bei der zivilen Verteidigung. Vieles ähnelte der Organisation und Struktur in der DDR.
Der Unterschied: Alles schien lockerer und offener, nicht so geheimnisvoll, wie ich es aus der Arbeit der DDR-Wehrbezirks- und Wehrkreiskommandos kannte. Jeder gab bereitwillig Auskunft. So eine Offenheit und Informationsbereitschaft wäre in der NVA und in den territorialen Verwaltungen und Einrichtungen der DDR undenkbar gewesen.
Oft gingen Volker Boche, Gert Wilhelm und ich in Blankenese spazieren. Am Elbufer beobachteten wir Seeleute natürlich die vielen ein- und auslaufenden Schiffe. Dabei tauschten wir uns auch über unsere berufliche Zukunft aus. Keiner hegte ernsthafte Absichten auf eine Karriere in der Bundesmarine. Von der Teilnahme an diesem Lehrgang versprachen wir uns wenig für unser berufliches Weiterkommen. Unsere Devise: Teilnehmen und schauen.
Während der Seminare beschäftigten wir uns mit den Rechtsgrundlagen für den Aufenthalt und die Befugnisse der in Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte, mit der Einordnung der Streitkräfte in den Rechtsstaat und mit dem Territorialheer.
Trotz der stocktrockenen Lehrveranstaltungen bekam ich interessante Einsichten.
Die Bundeswehr ist nach ihrer Zweckbestimmung und ihrem Auftrag im Grunde nichts anderes als die NVA. Trotzdem ist sie besser in das gesellschaftliche System ihres Staates integriert als es die NVA war. Alle Bereiche, die die Streitkräfte auch nur annäherungsweise berühren, sind rechtlich und gesetzlich ausgelotet sowie parlamentarisch und bürokratisch abgesichert. In den Gesetzen der DDR gab es dagegen nicht viel, was die Stellung der Streitkräfte verfassungsmäßig bestimmte. Auch aus diesem Grunde gab es kaum Komplikationen, die NVA juristisch aus dem Staatsgebilde DDR herauszulösen und zu beseitigen.
Konstruieren wir folgenden hypothetischen Fall: Wäre zum Beispiel die NVA keine von der SED geführte und nur auf einer verfassungsrechtlichen und parlamentarischen Basis, im Staatsdienst handelnde Armee gewesen, hätte man sie nicht so einfach im Handstreich auflösen können. Ich bin heute davon überzeugt, die NVA wäre, ohne der führenden Rolle der SED untergeordnet zu sein, eine genauso gut ausgebildete und vaterlandsverbundene Armee gewesen. Die Ursachen dafür, daß es nicht so war, waren nicht nur hausgemacht, der Einfluss der UdSSR seit Beendigung des Großen Vaterländischen Krieges und damit des Zweiten Weltkrieges trug wesentlich dazu bei.
Die Sektion Marine der Führungsakademie lud uns ein, die Aufgaben, Anforderungen und Studienbedingungen der Marineoffiziere kennenzulernen. Ich fand diese Geste der Lehroffiziere dieser Sektion sehr kameradschaftlich. Wir Marineoffiziere aus dem Osten hatten alle eine Akademie in Dresden oder Leningrad absolviert und merkten schnell Unterschiede und Übereinstimmendes. Mein erster Eindruck: Hier ging es viel lockerer und gelassener zu als damals in Dresden, besonders was den Ablauf, die Verfahrensweise und Methoden betrifft.
Ein wesentlicher Unterschied: Wer an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg studiert hatte, besaß einen regulären Abschluss mit einer zivil verwertbaren Anerkennung. Das war bei der NVA nicht so.
Und das spürten nun wir Offiziere nach der Vereinigung. Nach Artikel 37 des Einigungsvertrages stehen die in der ehemaligen DDR erworbenen Hochschulabschlüsse in den alten Ländern der Bundesrepublik nur dann einander gleich, wenn sie gleichwertig sind. Die Feststellung der Gleichwertigkeit obliegt den Wissenschaftsministerien der Länder. Diese stimmen erst zu, wenn eine Arbeitsgruppe der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland (KMK)36 die Gleichwertigkeit bestätigt hat.
Erste Ergebnisse sollten voraussichtlich Ende März 1991 vorliegen. Na schön. Ich schrieb an das Sekretariat der KMK nach Bonn. Da es in Mecklenburg-Vorpommern Gleichartiges noch gar nicht gab, wandte ich mich anschließend an das Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Schleswig-Holstein. Und sieh da, ich erhielt die Bescheinigung über die Bewertung meines Abschlusses an der Höheren Kaspischen Seekriegsschule in Baku. Somit konnte ich wenigstens mit dem Diplomingenieur etwas anfangen. Ich hatte sogar Glück, weil normalerweise das Gleichwertigkeitsverfahren nur an zivilen Hochschulen festgestellt wurde.
Für meinen an der Militärakademie in Dresden erhaltenen Abschluss eines Diplom-Militärwissenschaftlers erreichte ich, obwohl rangmäßig höher eingestuft, keine Gleichwertigkeit. Damit musste ich leben, man kann ja nicht alles haben.
Ganz besonders gefiel mir die Reisetätigkeit eines zukünftigen Akademikers in der Bundeswehr. Ich fand es hervorragend, daß jeder Absolvent mehrere Wochen in jedem NATO-Partnerland verbringt und dabei alle relevanten Bereiche seines Fachgebietes kennenlernt. Das gezielte Bekanntmachen mit dem Partner, in dessen Bestand man Aufgaben zu erfüllen hat, bereichert das Wissen anschaulich und einprägsam. Und es wächst die Fähigkeit, sich in fremden Sprachen zu üben. Was haben sich meine Mitstreiter mit Russisch herumgeschlagen. Gelernt haben sie doch nichts von Dauer.
Von unseren Waffenbrüdern in den Bruderländern, wie es damals hieß, wussten wir in der NVA wenig. Nur das, das sie wie wir den Frieden schützten und den Sozialismus verteidigten. Hier verschenkten wir viel Vertrauen und natürlich Wissen voneinander. Darüber täuschten auch nicht die vielen und herzlichen Begegnungen während meines Aufenthaltes und während meines Studiums in der Sowjetunion hinweg.
Ein weiterer Höhepunkt des Lehrgangs in der Führungsakademie war der Besuch des seinerzeitigen Stellvertreters des Bundeswehrkommandos Ost, Generalleutnant Werner von Scheven, bis zu seiner Versetzung nach Strausberg, Kommandeur der FüAkBw. Einen Aufenthalt in seiner Heimatstadt Hamburg nutzte er, um zu den Offizieren aller Teilstreitkräfte aus Ost und West zu sprechen.
Wenige Tage zuvor, am 11. Oktober 1990, hatte die erste Kommandeurstagung unter Leitung des Generals Schönbohm in Strausberg stattgefunden. Hier nach Hamburg kam nun sein Stellvertreter. Er sprach über den Auftrag der Streitkräfte in einem geeinten Deutschland, über »Die Bundeswehr in Staat und Gesellschaft und die Grundsätze der Inneren Führung«. Von Scheven wirkte sehr locker, ruhig und gelassen. Seine Wortwahl zeichnete sich durch Einfachheit und Ausgewogenheit aus. Ich hatte manchmal den Eindruck, in einem falschen Auditorium zu sitzen. Obwohl in Uniform, gab er sich nicht wie ein Militär, jedenfalls nicht wie jene, die ich aus der NVA kannte.
Das Militärische präsentierte sich in der DDR immer etwas starr und unnahbar. Ein Beispiel, wie Offiziershörer in Ost und West in das Wochenende gingen, soll das illustrieren. An der Akademie in Dresden fanden sogar noch Vorlesungen am Samstag statt. Punkt 11.10 Uhr ertönte das Pausenzeichen, wie die Besessenen sprangen wir in unsere Autos und jagten der Küste entgegen, um wenigstens ein paar Stunden zu Hause zu sein. Das erschien uns entwürdigend und kindergartenhaft, gestandene Offiziere so zu maßregeln.
Hier in Hamburg stand Freitag 15 Uhr mein Fahrer vor der Tür. Und ich fuhr in aller Ruhe mit meinen Kollegen von der Küste gen Heimat.
33 – Kommandeurstagung Marine 1990, Bericht Flottillenadmiral Horten S.16.
34 – Friedrich-Engels-Preis, eine staatliche Auszeichnung, wurde in 3 Stufen für hervorragende wissenschaftliche Leistungen an Forscher, Neuerer und Rationalisatoren verliehen.
35 – Jörg Schönbohm, »Zwei Armeen und ein Vaterland«, Siedler Verlag, S.51.
36 – Die KMK hat den Auftrag, die Gleichwertigkeit von Abschlüssen an zivilen Hochschulen der ehemaligen DDR festzustellen, um pauschale Anerkennungsregelung durch einen KMK-Beschluss zu ermöglichen.