Der Anschluss

“Eine Elite-Einheit der NVA rüstet ab” Der Anschluss

Die Soldaten der NVA und damit auch die des Küstenraketenregiments-18 waren in erster Linie Konsumenten. Sie brauchten Geld, um ihre Familien und sich zu ernähren. Bisher spielte in meinem Soldatenleben Geld eine untergeordnete Rolle. Oft musste mich meine Frau daran erinnern, dass wieder einmal Zahltag war. In der NVA wurde größtenteils bar ausgezahlt. Nur einen Teil, den wir sparen wollten, ließen wir auf unser Girokonto überweisen. Eine nennenswerte Verzinsung erfolgte nur auf Sparbüchern und dieser Festzins betrug einheitlich dreieinviertel Prozent. Also war es egal, wo man sein Geld anlegte.

Wir mussten umdenken. Mit der Währungsunion vollzog sich endgültig der wirtschaftliche Anschluss der DDR an die Bundesrepublik. Aber noch gab es den Termin 3. Oktober nicht. Alle Signale der gesellschaftlichen Entwicklung zeigten aber auf grün. Um diesen Schritt zu vollziehen, brauchte die Bundesregierung keinen um Erlaubnis zu bitten. Entweder sie konnte zahlen oder nicht. Sie konnte, und wie.

In den vielen Reportagen um die Ereignisse des 1. Juli sah ich viele nach Westgeld geradezu süchtige DDR-Bürger. Ich erkannte die gesellschaftliche Bedeutung dieses Akts, aber mich dagegen zu stemmen, kam mir nicht in den Sinn. Das Beste daraus zu machen mit dem, was man hatte, sah ich als einzige Alternative. Sparsamkeit war bei den meisten meiner Unterstellten und auch bei mir angesagt. Wir verteilten unser Geld auf die Anzahl der zum Haushalt gehörenden Personen und nahmen weitestgehend den günstigen Tauschkurs 1:1 in Anspruch.

Viele Menschen lösten wegen finanzieller Ungewissheit ihres Lebensversicherungen und auch wegen des Auffüllbetrages für den 1:1-Kurs ihr Angespartes auf. Ich hatte nach der Umstellung nicht weniger und nicht mehr auf der hohen Kante als zuvor. Glücklicher war ich dadurch auch nicht. Im Gegenteil – noch überlegteres Haushalten als in der Vergangenheit stand auf der Tagesordnung, denn keiner wusste, ob nicht noch Zeiten kommen, wo das Geld lebensnotwendig wird. Ein aus heutiger Sicht sehr vernünftiger Schritt. Und in einen Kaufrausch gerieten wir auch nicht.

Wenn wir im Fernsehen die Sparkassen und die langen Schlangen davor sahen und dann diesen oder jenen Kommentar live am Bildschirm hörten, staunte ich über viele DDR-Bürger. Nicht etwa, dass sie das Geld hätten verschmähen sollen, doch wie leichtfertig einige nicht ein paar Monate oder ein paar Jahre weiter dachten, das irritierte mich schon.

Beim ersten Zahltag in Westmark kam wohl jedem längerdienenden Soldaten ein eigenartiges Gefühl, das Gehalt vom »Klassenfeind« und vom potentiellen Gegner in Empfang zu nehmen. Einerseits verfügte man jetzt über die harte D-Mark, andererseits glaubte man, Almosen zu empfangen.

Als Soldaten verhielten wir uns im Regiment ziemlich naiv. Wir gaben 95.000 DDR-Mark im Rahmen der Währungsumstellung zurück. Das Geld stammte aus dem Fond für Belobigungen und Prämierungen. Alle, ob Matrose oder Abteilungskommandeur, ob Zivilbeschäftigter, Mann oder Frau erhielten für besondere Leistungen eine angemessene Anerkennung. Darauf legte ich sehr viel Wert.

Heute bereue ich es, dass ich diesen Fond nicht bis zum letzten Pfennig ausgenutzt habe. Kein Mensch interessierte sich dafür, wieviel DDR-Mark wir vor dem Währungstausch zurückgaben. Monate später handelte ich anders. Viele meiner Unterstellten bekamen eine letzte Prämie in der ihren vertrauten Währung. Den Rest rechnete der Oberoffizier für Finanzökonomie an das Kommando Volksmarine ab.

Der neue Eid

Auf Beschluss der Volkskammer sprachen anlässlich des Jahrestages des Putschversuches auf Hitler am 20. Juli 1944 die Soldaten der NVA einen neuen Eid. Ein ungewöhnliches Ereignis für mich. Als ich nach Abschluss der militärischen Grundausbildung Mitte September 1971 in der Offiziershochschule »Karl Liebknecht« in Stralsund feierlich vereidigt wurde, erhielt ich ein kleines, in Leinen gebundenes Buch mit einer Plastikschutzhülle. Dieses Büchlein trägt den Titel »Vom Sinn des Soldatseins«. Noch heute besitze ich diesen Ratgeber. Auch wenn vieles von der Geschichte überholt ist, und das Buch teilweise von sozialistisch gefärbten Phrasen wimmelt, wirkt der abgedruckte Fahneneid sehr klar und eindeutig. Ich finde den Schwur gerecht und zugleich hart. Der Fahneneid enthält keine Phrasen. Eindeutig steht dort, in wessen Auftrag der Soldat zu dienen hat, dass kein Volk der Welt durch die NVA angegriffen wird, sondern dass der Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen und bei einem Angriff sogar das Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen ist.

Andere Interpretationen entstanden erst nach dem politischen Machtwechsel. Behauptet wurde, die NVA sei ausschließlich auf Angriff ausgerichtet gewesen.

Der alte Fahneneid wurde in wesentlichen Passagen gekürzt, dem der Bundeswehr angepasst und mit dem Hauptgedanken der unbedingten Loyalität gegenüber Staat und Regierung versehen. Er ließ alle Möglichkeiten der Interpretation offen.

So sinnlos der Inhalt des neuen Fahneneids wirkte, so skurril zeigten sich die Begleitumstände, unter denen er in die Führungsorgane und in die Truppe eingeführt wurde. Einerseits begründete man den Termin 20. Juli damit, dass andere Idole als die bisher üblichen ausgewählt werden mussten, andererseits glaubte man, dass Vorgänge und Personen um den 20. Juli 1944 bei vielen unbekannt seien. Herr Eppelmann hätte es besser wissen müssen. In der DDR gab es genügend Literatur über diese Patrioten in der Wehrmacht des faschistischen Deutschlands. Besonders Ende der achtziger Jahre erschienen eine Vielzahl von Publikationen und Filmen. Meine Unterstellten und ich sowie meine Vorgesetzten wussten sehr wohl, den 20. Juli in die deutsche Geschichte einzuordnen.

Vor mir liegt ein Foto aus der Marinezeitung Nr. 7. Das Fahnenkommando der Volksmarine steht mit nach vorn gesenkter Flagge. Gemeinsam mit dem Kommandeur des Kampfschwimmerkommandos, Fregattenkapitän Knittel, halte ich die Fahne mit dem DDR-Emblem. Welch’ Widerspruch! Die Kokarden, Admiralssterne und Uniformknöpfe an unseren Uniformen sollten ohne Staatsemblem der DDR sein.

Nach der eigenen Vereidigung, an der alle dem Chef der Volksmarine direkt unterstellten Kommandeure, Chefs und Leiter teilnahmen, fuhr ich in meinen Truppenteil, um dort die Soldaten des Küstenregimentes zu vereidigen.

Aus den Berichten anderer Kommandeure und aus den Lagebesprechungen mit dem Chef der VM erfuhr ich, dass in anderen Truppenteilen, besonders bei den Landstreitkräften, über die Verweigerung des Fahneneides mehr oder weniger hart diskutiert wurde. Bei mir bat kein Berufssoldat im Zusammenhang mit der Neuvereidigung um seine Entlassung.

Nach der Neuvereidigung setzten wir wie gehabt den Dienst fort und fühlten uns in unserer Stellung als Armeeangehörige weder freier noch zukunftssicherer. Wesentlich wichtigere Ereignisse für die Zukunft Deutschlands und Europas fanden zu diesem Zeitpunkt im Kaukasus statt.

Die neue Welt

Die Vereinigung Deutschlands zeichnete sich am politischen Horizont ab. Die Menschen auf der Straße, zu denen ich mich zähle, erfuhren von den Ereignissen dieser Tage aus der »Aktuellen Kamera« oder aus der »Tagesschau«. Erst Tage danach ahnte der Interessierte die Tragweite der Verhandlungen in Moskau und im Kaukasus. Dort entschieden Politiker über das weitere Leben der DDR-Bürger und über die Existenz großer Menschengruppen in der Sowjetunion.

Die Geschichte dieser Tage raste wie ein Intercity an uns vorbei in Richtung Einheit Deutschlands. Wir, die Soldaten der NVA und die anderen Staatsdiener, standen an einem unbeschrankten Bahnübergang, sahen und hörten den glitzernden Silberpfeil näherkommen und ließen ihn vorbeirasen. Eine Chance, da einzusteigen, sahen wir nicht. Selbst die Masse der Reisewilligen fuhr nicht in die erträumte Zukunft. Und wir, die wir gar nicht einsteigen wollten, stellten uns aus reinem Selbsterhaltungstrieb nicht auf die Gleise.

Von der historischen Bedeutung her zogen Politiker 1990 den eigentlichen Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg. Genauso wie ein Intercity nicht ohne Zugführer und Fahrplan abfährt, überließ die bundesrepublikanische Seite nichts dem Zufall. Als einige ostdeutsche Politiker noch von einer Konföderation träumten oder an ähnlichen Denkmodellen für ein zeitweiliges Nebeneinanderexistieren von zwei deutschen Staaten einschließlich ihrer Streitkräfte bastelten, hatten die westdeutschen Kollegen längst alles entschieden.

Bedeutung und Tragweite der historischen und in die Zukunft weisenden Aktivitäten im Juli 1990 erkannten wohl nur die wenigsten Menschen. Es herrschte bis zu diesem Zeitraum auch bei den Soldaten der DDR keine Schlechtwetterstimmung. Keiner sah direkt seinen Arbeitsplatz bedroht. Mit den Beschlüssen von Moskau und der vom Minister für Abrüstung und Verteidigung Eppelmann nie offen ausgesprochenen Abkehr von den zuvor lauthals verkündeten Plänen über die Existenz von zwei deutschen Armeen im vereinten Deutschland, begann aber die Stimmung bei den Soldaten innerhalb von zwei Monaten umzukippen. Auch im Küstenraketenregiment.

Noch im Juli überprüften wir den zwar eingeschränkten und den im Vergleich zu früheren Zeiten abgeschwächten Gefechtsdienst auch an Sonn- und Feiertagen, doch alle warteten darauf, dass die politischen und militärischen Vorgesetzten Farbe bekennen.

Sagt mir heute jemand, alle unsere Bestrebungen, das Küstenraketenregiment auf Teufel komm’ raus zusammenzuhalten, während andere schon längst in Passivität verharrten, sei sinnlos gewesen, so fiele mir auch aus heutiger Sicht keine andere Entscheidung als damals ein.

Nur so konnten wir auf die sich abzeichnenden politischen Veränderungen reagieren und alle Möglichkeiten ausschöpfen, im Interesse jedes einzelnen, besonders der Berufssoldaten und Zivilbeschäftigten.

Wir sammelten aktiv Erfahrung in der neuen Welt. Bloße Vermutungen, Phantasiebilder und Hypothesen in den vielen Gesprächsrunden bei einer Tasse Kaffee halfen auf Dauer keinem Unterstellten. Aber glaubhaft, ehrlich und vorbildlich auf andere auszustrahlen, blieben menschliche Eigenschaften, die ich aus dem vergangenen Parteileben gut kannte, die aber vorher niemand so von mir forderte wie in jenen Tagen. Da gab es kein Kneifen und keine Schönfärberei, man musste Position beziehen, besonders im soldatischen Alltagsleben – mehr als je zuvor.

Die Ergebnisse der historischen Treffen in Moskau und Shelesnowodsk (Kaukasus) vom 16./17. Juli 1990 vollendeten die Vorbereitung des deutschen Einigungsprozesses. Die Auswirkungen auf die NVA im Allgemeinen und auf unser Regiment speziell spürten wir, als eine Spezialistengruppe der Bundesmarine im August 1990 unser Regiment besichtigte.

Wenn die Beitrittserklärung der Volkskammer der DDR am 23. August 1990 das Aus für die NVA signalisierte, dann läutete der Spezialistenbesuch nur ein paar Tage später inoffiziell das Ende des KRR-18 ein.

Unter der Leitung von Fregattenkapitän Diedrich sichtete eine Gruppe der Bundesmarine die Bestände an Raketen, Bewaffnung und Munition in der Volksmarine. Der zukünftige Eigentümer verschaffte sich einen ersten Überblick über Kräfte und Mittel und analysierte deren Weiterverwendbarkeit, sammelte erste Kenntnisse über die Sicherheit der gelagerten Bestände und konnte nach Gesprächen mit den verantwortlichen Kommandeuren, Chefs und Leitern einschätzen, welches Risikopotential diese Waffen und Waffensysteme bis zur Herstellung stabiler Organisationsformen und Führungsstrukturen, nach der Übernahme der NVA durch die Bundeswehr, darstellten.

Zu der Gruppe gehörten die Fregattenkapitäne Nennmann und Haprich. Erstmals betraten bundesdeutsche Offiziere das Territorium des Küstenraketenregiments, die fachlich die Lage und den Zustand der Truppe beurteilten. Diese Offiziere kamen in Begleitung von Friedbert Fischer, dem zuständigen Offizier vom RWTD des KVM. Fregattenkapitän Fischer und ich kannten uns sehr gut, viele erfolgreiche Projekte im RWTD haben wir gemeinsam verwirklicht.

Die westdeutschen Offiziere erwiesen sich als sehr angenehme Gesprächspartner. Das betone ich hier besonders, weil ich in naher Zukunft nicht wenig Arroganz, teilweise verdeckte, manchmal auch offene bundesdeutsche Überheblichkeit und Siegermentalität zu spüren bekommen sollte. Diese Offiziere gaben offen und ehrlich ihr Urteil über unsere Zukunft ab, so wie sich bisher kein einziger Politiker, weder aus Ost noch aus West, kein Minister, kein Chef der NVA, auch nicht der Chef der Volksmarine geäußert hatten.

Mein Stellvertreter für Raketenbewaffnung führte die Offiziere durch alle Bereiche, in denen Startrampen, Raketen, Munition, Bewaffnung und andere Spezialtechnik abgestellt waren. Danach bat ich sie in mein Dienstzimmer. Sie äußerten ihr uneingeschränktes Interesse an den Küstenraketentruppen der Volksmarine und äußerten sich sinngemäß so:

Herr Kapitän, wir möchten Ihnen an dieser Stelle eindeutig zu verstehen geben, dass diese Bewaffnung, wie wir Sie uns in Ihrem Regiment anschauen durften, keine Zukunft in der Bundesmarine haben wird. Wir ordnen damit nicht die Auflösung des Küstenraketenregiments an, sondern wir möchten Sie und Ihre Truppe vor falschen Hoffnungen oder Wünschen bewahren. Sie sind der einzige, dem wir vorerst diese Tatsache mitteilen möchten.

Ich war nicht besonders schockiert, ich hatte es geahnt. Dieser Tag im August 1990 war der Schicksalstag für das Küstenraketenregiment-18.

Ich hatte ein Problem mehr. Irgendwie musste ich jetzt meinen Unterstellten erläutern, dass die stolzen Küstenraketenkräfte der Volksmarine ihrem unaufhaltbaren Ende entgegengingen. Ich entschloss mich, heute und morgen noch nichts zu unternehmen. Ich musste mir erst selbst eine Position verschaffen.

Die westdeutschen Spezialisten hatten ihre Meinung natürlich begründet: Die Bundesmarine verwirklicht im Ostseeraum eine ganz andere Einsatzkonzeption ihrer vornehmlich schwimmenden Einheiten. Die Frage nach möglichen Küstenraketenkräften in der Bundesmarine wurde in vielen Diskussionen über viele Jahre hin immer zugunsten der Schiffe, Boote und Marinefliegerkräfte entschieden. Mit anderen Worten, eine Marine bewegt sich nicht auf dem Land, sondern fährt zur See.

So das Argument der seemännischen Gegner der Küstenraketentruppen. Selbst der NATO-Verbündete Dänemark besaß Küstenraketenkräfte. Die Bundesmarine führte aber erfolgreich einen jahrelangen »Religionskrieg« gegen die Küstenraketen.

Weiterhin äußerten die beiden Offiziere, dass sich die Bundesmarine nicht in die Abhängigkeit sowjetischer Ersatzteillieferungen begeben wolle. Letztlich scheiterte es auch daran, sich von heute auf morgen wieder mit etwas beschäftigen zu müssen, von dem man sich konzeptionell längst verabschiedet hatte.

Ich suchte Lösungen für meine jetzige Lage. Am nächsten Morgen informierte ich den Chef der Volksmarine über die Ergebnisse des Spezialistenbesuches. Er beruhigte mich, noch sei offiziell keine Entscheidung zur Weiterverwendung unseres Truppenteils gefallen. Er versprach, sich besonders für die Küstenraketentruppen einzusetzen. Das beruhigte mich nicht allzu sehr.

Tage darauf rief mich Kapitän zur See Dr. Dix an und teilte mir mit, dass ich mit anderen Offizieren aus der 1., 4. und 6. Flottille vorgesehen sei, an einem Seminar mit Bundesmarineoffizieren in Marienheide teilzunehmen. Ich sagte selbstverständlich umgehend zu, denn nur dort konnte ich Informationen erhalten, um begründete Entscheidungen zu treffen, um die Truppen in den komplizierten gesellschaftlichen Verhältnissen der noch existierenden DDR zu führen. Auch wollte ich die Gelegenheit nutzen, meinen ehemaligen Feind am Biertisch oder ganz privat kennenzulernen. Ich wollte wissen, was das für Menschen und Soldaten sind, gegen die ich fast zwanzig Jahre auf Friedenswacht gestanden habe, was sie denken und wie sie leben. Ich nahm mir vor, nach dieser Dienstreise in den Westen, meiner Truppe über unser Schicksal reinen Wein einzuschenken.

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