Die Volksmarine aus Sicht der U.S. Navy


Die Darlegung der Aufgaben der Volksmarine war einfach. Dazu gab es vielfältige Stellungnahmen in amtlichen und propagandistischen Veröffentlichungen, an deren Wahrheitsgehalt kein Zweifel bestand. Die Volksmarine war eine in den Warschauer Vertrag eingebundene Koalitionsmarine zum Schutz der Küste der DDR und verfügte darüber hinaus über ein begrenztes Offensivpotential. Dafür sprach, dass die Masse der Kräfte nicht zentral vom Kommando geführt wurde und in der 1.und 4. Flottille für den Einsatz im Küstenvorfeld ausgerüstet und ausgebildet war. Die Unterstellung einer Landungsschiffbrigade unter die eine und einer Korvettenbrigade unter die andere Flottille änderte daran wenig. Allerdings wusste man, dass die Minensuch- und Räumschiffsverbände am Ende ihrer Verwendungsfähigkeit angekommen und Ersatz nicht in Sicht war. Ob zur Überwindung der Lücke, bis zur Indienststellung eines in der Entwicklung befindlichen schwachmagnetischen Küstenminensuchers an einen Import aus der SU gedacht war, blieb ungewiß. Die U-Jagdkomponente der Volksmarine war nach der Indienststellung der 16 Schiffe des Projekts 133. 1, der „Parchim“-Klasse, relativ modern. Ob der auf diesen Schiffen mitgeführte U-Jagdtorpedo tatsächlich über Flachwassereigenschaften verfügen würde, wurde bezweifelt. Ein Schwachpunkt war mit Sicherheit die aus der SU gelieferte Antriebsanlage. Es wurde auch bekannt, dass der Export einer waffentechnisch stark verbesserten “Parchim” an die Baltische Flotte zu Diskussionen über den Stellenwert der Waffenbrüderschaft geführt hatte. In einem häufig verwendeten Videofilm über die Landungsschiffe des Projekts 108, der “Frosch l”-Klasse, überzeugte die moderne Konstruktion und Bewaffnung dieses Schiffstyps. Wurde nach der dafür nötigen Marineinfanterie gefragt, musste berichtet werden, dass ihre Aufstellung an der Teilstreitkräfterivalität mit der Armee gescheitert war. Ein an der Küste stationiertes Mot.-Schützenregiment hatte die Aufgabe zu übernehmen. Noch größer war das Erstaunen, wenn nach den Marinefliegern gefragt wurde. Viele der Flagg- und Stabsoffiziere waren mit dem Dilemma der Kriegsmarine vertraut, die ohne eigene Fliegerverbände in den 2. Weltkrieg eintrat, weil Göring das Luftwaffenmonopol für sich beansprucht hatte. Eine Wiederholung dieses Fehlers hielt man für ausgeschlossen. Als überzeugte Vertreter des „Seekriegs aus der Luft”, wurde deshalb die Überlebenschance der Kräfte der Volksmarine niedrig angesetzt. Die Zuführung des Jagdbombergeschwaders 28 mit 20 Maschinen des Typs SU-22 M4 kam spät und bis zur Wende blieb unklar, ob dieser Typ Punktzielwaffen, Seezielraketen oder sogar Marschflugkörper hätte einsetzen können. Die U-Jagd- und Minenräumkapazität des Hubschraubergeschwaders 18 wurde, beim Fehlen eines ausreichenden Luftschirms, ebenfalls skeptisch beurteilt.

Mit großer Besorgnis reagierte man dagegen auf die Übernahme des Küstenraketensystems “Rubesh”. Es war vor allen Dingen nicht gleich bekannt, welche qualitativen Verbesserungen die an die DDR gelieferte Variante besaß. Seit dem Golfkrieg, wo ähnliche Raketen chinesischer Herkunft ein besonderes Bedrohungspotential dargestellt hatten, war man an der vollständigen Aufklärung dieses Waffensystems stark interessiert. Vollständig ist dies aber erst nach der Wende auf dem Testgelände am Patuxent River in der Nähe von Washington geglückt.

Dort ist auch ein Kleines Raketenschiff des Projekts 1241 Ä (“Tarantul”) ausgiebig mit unterschiedlichen Ergebnissen erprobt worden.
Das Offensivpotential der Volksmarine wurde in den Vorträgen breiter vorgestellt. Seit der
Einführung der Raketenschnellboote des Projekts 205 (” OSA-1″), der großen
Torpedoschnellboote des Projekts 206 („Shershen”) sowie der kleinen TS-Boote der „Iltis“- und “Libelle”-Klasse sowie den später hinzugekommenen Kleinen Raketenschiffen des Projekts 1241Ä, galt das besondere Interesse dieser Flottille. Auf der Bug-Halbinsel hatte sich eine elitäre Truppe von Schnellbootsfahrern und Raketenspezialisten herausgebildet. Die Zuführung der Raketenschnellboote hatte Ende 1962 unter großer Geheimhaltung begonnen. Sie wurden im Nordhafen von Peenemünde versteckt und waren doch schon vor ihrem Eintreffen in der DDR aufgeklärt. Die Führung der Volksmarine hätte also den Besatzungen die Unbequemlichkeiten ersparen können, die mit der Geheimnistuerei verbunden waren. Seit dem Elath-Zwischenfall wusste man von der Wirksamkeit der “Styx”-Rakete, die im Osten P15 genannt wurde. Keine der NATO-Marinen besaß zu dieser Zeit eine vergleichbare Waffe. Das Unbehagen darüber in der Bundesmarine hat Admiral Ciliax in einem Aufsatz für das MGFA beschrieben. Hinzu kam, dass man von einem hohen Grad an technischer Zuverlässigkeit bei diesen Raketen in deutscher Hand ausging. Der Parole: “Jede Rakete ein Treffer” wurde Glauben geschenkt und alle Anstrengungen unternommen, die P-15 und ihre Nachfolgemuster P-21 /P-22 aufzuklären. Auch dieses Unternehmen war erfolgreich. Sorgen bereiteten Meldungen, dass mit großem Aufwand in der Akademie der Wissenschaften und in einigen Industriekombinaten an der Entwicklung einer modernen Schiff-Schiff-Rakete gearbeitet wurde. Zeiss Jena wurde zugetraut, einen auf der Höhe der technischen Entwicklung im Westen stehenden Zielsuchkopf zu bauen. Das für diese Raketen bestimmte Boot des Projekts 151, in der NATO als BALCOM 10 (Baltic Combatant 10) bekannt, wäre ein Angriffsmittel neuer Qualität geworden, dessen Einführung bei der Volksmarine und dessen Export in die Warschauer Pakt-Staaten oder sogar nach Kuba und Vietnam Probleme bereitet hätte. Das Vorhaben ist an der wirtschaftlichen Misere in der DDR und an der Nichteinhaltung von Zusagen der sowjetischen Seite gescheitert. Es hat zugleich die Grenzen aufgezeigt, die der Rüstungsindustrie der DDR in den 80er Jahren gesetzt waren.

Die meisten Analysten hielten den Dransker Stützpunkt der 6. Flottille für besonders luft- und minengefährdet. Die Dislozierung in vorbereitete kleine Häfen wäre mit Hilfe der Satellitenaufklärung rasch erkannt worden. Deshalb wurde der Beschaffung von Informationen über Mittel der Tarnung und Täuschung, das aufblasbare KTS-Boot vom Typ “Libelle” mit einer genau nachgebildeten Radarsignatur mag dafür als Beispiel dienen, hohe Priorität eingeräumt. Alle Mittel und Methoden der elektronischen Kriegführung, in der DDR, funkelektronischer Kampf’ genannt, gehörten zu den Schwerpunkten der Arbeit als Zulieferer für einen anderen Nachrichtendienst der USA.
Taktische Varianten des Einsatzes der Stoßkräfte der Volksmarine waren in ihren Grundzügen bekannt. Sie orientierten sich gegen Ende der DDR an den Möglichkeiten der veralteten Raketenträger. Dabei wurde der Einfallsreichtum bewundert, mit der die Unzulänglichkeiten der Waffensysteme kompensiert werden sollten.
Die Kürze der Zeit verbietet das Eingehen auf andere Waffensysteme oder Einheiten der VM. Der beeindruckende Apparat des Chefs der Rückwärtigen Dienste, das Nachrichtenregiment und andere würden dazu gehören.
Das Kampfschwimmerkommando-18 in Kühlungsborn blieb ein Buch mit sieben Siegeln. Man ging davon aus, das seine Ausrüstung auf der Höhe der westlichen Tauchtechnik stehen würde. Über Unterwassertransporter, Mini-U-Boote etc. hatte man kaum Kenntnisse. Es war auch unklar, ob Froschmänner der VM aus sowjetischen oder polnischen U-Booten an NATO Küsten ausgebootet worden wären, um als Kommandos sensible Stellen der Verteidigung der Ostseeausgänge lahm zu legen. Ungewiss blieb auch, ob es eine Arbeitsteilung unter den Kampfschwimmereinheiten der Verbündeten Ostseeflotte gab. Eine Antwort darauf lieferte erst die Nachwendezeit.
Aufmerksam wurde die Ausbildung des Personals der VM beobachtet, jede erreichbare Quelle danach befragt. Die Ausbildung an der Offiziershochschule in Stralsund, die den jungen Offizier nicht nur zur Führung von Menschen, Schiffen und Waffen befähigen, sondern auch zu einem treuen Anhänger des SED-Regimes formen sollte, hielt jedem Vergleich stand. Die Trennung der Laufbahnen von See- und Ingenieuroffizieren, in der U.S. Navy nicht üblich, hat an dieser Einschätzung nichts geändert. Die Laufbahn des Politoffiziers wurde mit der eines Verantwortlichen für die Truppenmoral verstanden. Dass überzogene Indoktrination eher gegenteiliges bewirkt, wusste man aus weltweiten Erfahrungen sehr wohl. Die Nichtaufnahme von Frauen in die Offizierslaufbahn wurde, je nach dem Verständnis des Zuhörers für die Rolle der Frauenbewegung, positiv oder negativ betrachtet. Als eine Verschwendung von “human capital”, d.h. von intellektuellem Sachverstand, wurde die bis zu fünf Jahre dauernde Weiterbildung an sowjetischen und anderen Akademien bewertet. Zwei Jahre reichen der U.S. Navy, um einen qualifizierten Stabsoffizier auszubilden.
Die Ausbildung von Wehrpflichtigen und Längerdienenden an der Flottenschule wurde ebenfalls positiv bewertet. Bei der Möglichkeit des Zugriffs auf qualifizierte Facharbeiter eines Industrielandes, konnte man sich auch kaum Probleme bei der Rekrutierung von Nachwuchs in einer Wehrpflichtarmee vorstellen. Verwunderung rief gelegentlich die Tatsache hervor, daß die Ableistung eines längeren Wehrdienstes nicht mit Geld, sondern mit einer bevorzugten Zulassung zu einem Studienplatz verbunden sein konnte. Wehrmüdigkeit und Wehrdienstverweigerung wurden dagegen erst spät zur Kenntnis genommen und offenbar in ihrer Auswirkung unterschätzt. Wie wurde nun die Fähigkeit der VM eingeschätzt, ihren Auftrag zu erfüllen? Trotz allerlei Bedenken über das tatsächliche Funktionieren der Zusammenarbeit der Verbündeten Ostseeflotten unter sowjetischer Führung, wurde diese Frage klar bejaht. Dazu hatte man die Manöver, Planspiele und Übungen sorgfältig verfolgt und ausgewertet. Insbesondere die Manöver “Waffenbrüderschaft” 1970 und 1980, die auf dem Gebiet der DDR stattfanden und in der propagandistischen Selbstdarstellung ein sonst unübliches Maß an Offenheit boten, haben dazu beigetragen. Eine bis über die Mitte der 80er Jahre hinaus gültige Strategie des Vorstoßes in Richtung Ostseeausgänge und Nordsee war in Manövern und Stabsübungen mehrfach geübt und verbessert worden. Dabei hätte die VM eine Aufgabe in der ersten strategischen Staffel zu lösen gehabt und wäre mit der Bundeswehr konfrontiert worden. Ob Deutsche unter diesen Umständen auf Deutsche schießen würden unterlag keinem Zweifel. Insgesamt wurde der VM ein hohes Maß an Professionalität und Einsatzbereitschaft zuerkannt.
Der schrittweise Übergang auf eine defensive Strategie, nach 1987, mußte für die exportierte Lage der Volksmarine Konsequenzen haben. Ein neuer Chef der VM setzte die Reduzierung der überzogenen Bereitschaftsnormen, die aus Angst vor „jähen Wendungen” in der Sicherheitslage jahrelang praktiziert worden waren, durch. Politisch unabweisbare Reduzierungen der Streitkräfte und überproportionale Steigerungsraten bei den Mitteln für die Beschaffung von modernen Schiffen und Geräten ließen eine Änderung in der Zusammensetzung, Größe und Einsatzkonzeption der Volksmarine wahrscheinlich werden. Sie sind in vollem Umfang erst nach 1990 deutlich geworden.
Das Modell des “real existierenden Sozialismus” war Ende 1989 in der DDR gescheitert. Die Öffnung der Mauer überschwemmte die Nachrichtendienste mit Informationen, die in der Presse gelegentlich hysterische Züge annahmen. Ein großer Strom enttäuschter DDR-Bürger passierte die Aufnahmelager, um sich rasch eine Zukunft im Westen zu suchen. Unter ihnen waren auch Angehörige der VM und Reservisten aller Dienstgrade. Das Bild der Volksmarine begann sich zu runden, ohne wirkliche Überraschungen zu liefern. In Zusammenarbeit mit der Bundesmarine gelang schließlich die Entschleierung einiger militärischer Fakten, die für die US-Navy im Golfkrieg von hohem Wert waren.
Während der wirtschaftliche Niedergang der DDR die Fachleute im Westen nicht überraschte, verblüffte der rapide Zerfall der SED-Herrschaft und die Hilflosigkeit ihrer Führung. Deshalb bereitete die Frage Sorge, ob die Modrow-Regierung die NVA in der Hand behalten würde. Mit der Berufung von Admiral Hoffmann zum Verteidigungsminister hatte man jedoch eine gute Entscheidung getroffen, und auch Pastor Eppelmann war gut beraten, ihn als Chef der NVA zu behalten.
Mit der NVA wurde die Volksmarine aufgelöst und abgewickelt. Nur eine Handvoll ihrer Angehörigen bekamen die Chance, sich dem vereinten Deutschland zur Verfügung zu stellen. Bei den hierzu notwendigen Verhandlungen waren Statusfragen nebensächlich. Es ging insbesondere um die Versorgungsansprüche der Entlassenen und um die Sicherung einer bescheidenen Existenz für den jüngeren Personalbestand.
Sehr bald nach der Wende erlaubten Kontakte zu Offizieren der VM gegenseitigem Kennenlernen und sachliche Gespräche. Das Blau und Gold der Marine erwies sich auch hier als eine gute Basis für die Verständigung. Auf ausdrücklichen Wunsch des ranghöchsten Offiziers der US-Navy in Deutschland wurden deshalb zu der eingangs erwähnten Schließungszeremonie die beiden in Berlin lebenden Admirale der deutschen Nachkriegsjahren eingeladen. Der westdeutsche Admiral sagte ab, Admiral Hoffmann wurde mit dem ihm zustehenden Protokoll für einen Dreisterneflaggoffizier begrüßt. Sein Beitrag für die friedlich abgelaufene Wende in der DDR sollte damit gewürdigt werden. Es ist einem amerikanischen Politikwissenschaftler vorbehalten geblieben, die Rolle der NVA bei der Wende zu analysieren. Dale R. Herspring, ein großartiger Kenner des Militärapparates der DDR, der auch als Historiker bei der U.S. Navy beschäftigt gewesen ist, hat in seinem 1998 erschienenen Buch” Requiem for an Army” (Abgesang auf eine Armee) die Rolle der Militärs in den Tagen des Umbruchs gründlich untersucht und positiv bewertet. Deshalb hat er sein Buch „allen Angehörigen der NVA gewidmet, die durch ihre Unterstützung des friedlichen Übergangs zu Demokratie in einer Zeit großer Spannungen dazu beigetragen haben die deutsche Wiedervereinigung zu verwirklichen.”
Gestatten Sie mir zum Schluss eine persönliche Bemerkung.
Der Soldatenstand hat es in Deutschland nicht immer leicht gehabt. Nach zwei verlorenen Weltkriegen jeweils geschmäht und verfolgt, haben viele in der DDR geglaubt nun einer gerechten Sache dienen zu können. Die Enttäuschung dieser Menschen ist deshalb besonders bitter und verständlich. Bleibt zu hoffen, daß die Geschichte der Volksmarine Gegenstand unvoreingenommener Forschung wird, um pauschalen Verurteilungen vorzubeugen, wie sie den Wehrmachtsangehörigen von dem Erben eines Zigarettenimperiums präsentiert wurden.

Die Dienststelle der US-Navy im Hauptquartier der amerikanischen Truppen in Berlin-Dahlem wurde am 29.07.1994 geschlossen.
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